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Während sie es ebenso wie das Kostüm mit zwei Röcken und ein Kleid aus dünnerem Stoff in den Schrank hängte, musste sie unwillkürlich an die Zeit denken, als Pitt noch bei der Polizei war und sie zusammen mit ihrer Schwester Emily versucht hatte, ihm bei seinen Ermittlungen zu helfen, insbesondere dann, wenn die Verbrechensopfer den gehobenen Schichten der Gesellschaft angehörten, in denen sie und Emily ungehindert verkehren konnten, während dem Polizeibeamten Pitt Einblick lediglich als Außenstehendem gewährt wurde – und so jemandem gegenüber verhielten sich die Menschen unnatürlich und mit äußerster Zurückhaltung.

Diese Verbrechen waren jeweils das Ergebnis menschlicher Leidenschaft und gelegentlich gesellschaftlicher Unbill gewesen, aber nie mit Staatsgeheimnissen verbunden. Für Pitt hatte es keinen Grund gegeben, nicht offen mit ihr darüber zu sprechen und ihre Kenntnisse von den Zusammenhängen und den Verhaltensweisen der Angehörigen jener Gesellschaftsschicht nicht zu nutzen, die sich so sehr von der seinen unterschied, dass er nicht ohne weiteres zu erfassen vermochte, wie er einzuschätzen hatte, was sie taten und sagten. Ganz besonders galt das natürlich für die Damen der Gesellschaft.

Fast immer war es um eine menschliche Tragödie gegangen, und bisweilen war es dabei zu gefährlichen Situationen gekommen. Charlotte hatte häufig Zorn über Ungerechtigkeiten empfunden und Mitgefühl für Menschen aufgebracht, deren Handlungsweise auf einer Gefühlsverwirrung beruhte. Dennoch hatte sie dies Abenteuer, an dem Kopf und Herz gleichermaßen beteiligt waren, sehr geschätzt, zumal es dabei um eine Sache gegangen war, für die zu kämpfen sich lohnte. Sie hatte sich dabei nie gelangweilt und auch nie die innere Leere empfunden, die sich einstellte, wenn man im Leben kein Ziel hatte, an das man unverbrüchlich glaubte.

Sie verteilte ihre Toilettenartikel auf der Frisierkommode und der Ablage des freundlichen Badezimmers, das sie sich mit einem anderen weiblichen Pensionsgast teilte. Dann zog sie Rock und Bluse aus, nahm die Haarnadeln heraus und legte sich im Unterrock auf das Bett.

Als es an der Tür klopfte, fuhr sie hoch. Sie musste wohl eingeschlafen sein. Verwirrt sah sie die Möbel, die Gaslampen an den Wänden und die Fenster an – nichts davon war ihr vertraut. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie war, doch dann fiel es ihr ein, und sie stand so rasch auf, dass sie dabei die Decke vom Bett herunterzog.

»Wer ist da?«, fragte sie.

»Victor«, sagte er leise. Immerhin war es möglich, dass Mrs Hogan besonders feine Ohren hatte, und er wollte auf jeden Fall die Täuschung aufrechterhalten, dass es sich bei ihnen beiden um Halbgeschwister handelte.

»Ach je.« Sie sah an sich herab, wie sie im Unterrock dastand. »Einen Augenblick bitte«, sagte sie. Zwar konnte sie unmöglich binnen kürzester Zeit ihre Haare wieder ordentlich feststecken, aber auf jeden Fall musste sie sich vollständig anziehen. Mit einem Mal war sie wegen ihres Aussehens befangen. Sie schlüpfte rasch in Rock und Bluse, warf sich dann die Kostümjacke über, knöpfte sie in der Eile falsch zu und musste wieder von vorn anfangen. Sicherlich fragte er sich, während er auf dem Gang vor dem Zimmer wartete, warum sie so lange brauchen mochte.

»Ich komme gleich«, sagte sie, fuhr sich rasch mit der Bürste über die Haare und öffnete dann die Tür.

Trotz seiner Erschöpfung musterte er sie mit einem belustigten Lächeln. Möglicherweise lag darin auch eine Anerkennung ihrer Weiblichkeit, die sie lieber nicht zur Kenntnis nahm. Sie war keine ausgesprochene Schönheit – jedenfalls nicht im landläufigen Sinne –, aber eine bemerkenswert gut aussehende Frau mit vollem Haar, glatter weicher Haut und ausgeprägten weiblichen Formen.

»Du bist heute zu einer Abendgesellschaft eingeladen«, sagte er, kaum dass er ins Zimmer getreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte. »Und zwar im Haus von John und Bridget Tyrone, mit denen ich noch nicht zusammenzutreffen wage. Mein Freund Fiachra McDaid begleitet dich. Ich kenne ihn schon lange, und er wird dich mit ausgesuchter Höflichkeit behandeln. Gehst du bitte hin?«

»Selbstverständlich«, sagte sie sogleich, sowohl, um sich festzulegen, bevor ihre Vorsicht sie mahnte, es lieber nicht zu tun, als auch, um ihn zu beruhigen. »Erzähl mir etwas über

Die Hände in den Taschen, lehnte er am Türrahmen. Er sah völlig entspannt aus, völlig anders als der, den sie bisher ausschließlich im Zusammenhang mit seinen Berufspflichten kennengelernt hatte. Sie stellte sich flüchtig vor, wie er vor zwanzig Jahren gewesen sein musste: ein kluger Mann, der niemanden nah an sich heranließ und dessen Gefühle man nicht recht einschätzen konnte. Allerdings fühlten sich manche Frauen gerade davon unwiderstehlich angezogen. Sie selbst hatte mehrere von dieser Art Frau kennengelernt, die sich davon weit mehr verlocken ließen als von der Aussicht auf eine gute Heirat – einen Mann mit einem Adelstitel oder viel Geld.

Während sie auf seine Antwort wartete, war sie sich ihres Reisekostüms und ihres unfrisierten Haares bewusst.

»Mein Vater hat deine Mutter geheiratet, nachdem die meine gestorben war«, begann er.

Sie hörte aufmerksam zu, um sich genau einzuprägen, was er sagte, damit sie beide jederzeit dieselbe Geschichte erzählen konnten.

»Als du geboren wurdest«, fuhr er fort, »habe ich schon in Cambridge studiert. Deshalb wissen wir so wenig voneinander. Mein Vater stammt aus Buckinghamshire, kann aber ohne weiteres nach London gezogen sein, so dass du einfach sagen kannst, wo du aufgewachsen bist und wo du dich auskennst.

»Was hat er gemacht – ich meine, unser Vater?«, fragte sie. Das Ganze war so unwirklich und geradezu lächerlich, aber ihr war klar, dass es wichtig war und von entscheidender Bedeutung sein konnte.

»Er hatte Grundbesitz in Buckinghamshire und hat in jungen Jahren bei der Kolonialarmee in Indien gedient. Ich habe ihn nicht besonders gut gekannt, du brauchst also auch nicht mehr über ihn zu wissen.«

Sie hörte den Ton des Bedauerns in seiner Stimme, einen gewissen Zorn über das, was ihm in der Jugend entgangen sein mochte, doch das war rasch verflogen. »Er ist schon länger tot. Was deine Mutter betrifft, kannst du dich an die Wahrheit halten. Du und ich haben einander erst kürzlich näher kennengelernt und wollen unsere Bekanntschaft auf dieser Reise vertiefen.« Ein undeutbarer Ausdruck trat in seine Augen und verschwand wieder.

»Aber warum ausgerechnet Irland?«, fragte sie. »Danach wird man mich doch bestimmt fragen.«

»Meine Mutter war Irin«, gab er zurück.

»Tatsächlich?«, fragte sie überrascht, da er es zuvor abgestritten hatte, irischer Abkunft zu sein. Er hatte ihr doch gesagt, eine seiner Urgroßmütter sei Irin gewesen.

»Natürlich nicht«, fuhr er mit breitem Lächeln fort, »aber sie lebt nicht mehr und wird sich nicht beschweren.«

Sie empfand ein sonderbares Mitgefühl und begriff seine große Einsamkeit.

»Ich verstehe«, sagte sie ruhig. »Und was ist mit den Verwandten, die ich suche? Wieso bleibe ich einfach hier in Dublin, ohne etwas zu unternehmen, um sie zu finden? Warum suche ich sie überhaupt?«

»Vielleicht solltest du diesen Punkt besser streichen«, gab er zurück. »Du willst einfach Dublin kennenlernen. Ich habe dir so viel darüber berichtet, und wir haben uns diesen Vorwand ausgedacht, um einen Grund für die Reise hierher zu haben. Die Leute sind sicher gern bereit, das zu glauben, denn es wird ihnen schmeicheln. Dublin ist eine herrliche Stadt und von einzigartigem Zauber.«