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»Ach, tatsächlich?«, sagte Talulla Lawless überrascht und hob die schmalen schwarzen Brauen über ihren wunderbaren großen leuchtenden Augen, die zwischen Blau und Grün zu changieren schienen, kaum, dass Charlotte – die nun entschlossen war, nach dem Motto »Wenn schon, denn schon« ihr Ziel zu verfolgen – den Namen genannt hatte. »Sie scheinen sie gerngehabt zu haben«, fuhr Talulla fort. Sie war so schlank, dass sie fast knochig wirkte.

Charlotte dachte an die einzige ihrer beiden Großmütter, die sie kennengelernt und als brummig und streitsüchtig in Erinnerung hatte. »Sie hat mir herrliche Geschichten erzählt«, fantasierte sie drauflos. »Es kann gut sein, dass sie ein bisschen übertrieben waren, aber man hat in ihnen die Wahrheit des Herzens gespürt, auch wenn die Ereignisse, von denen sie berichtet hat, nicht unbedingt alle der Wirklichkeit entsprochen haben mögen.«

Talulla tauschte einen kurzen Blick mit einem blonden Mann namens Phelim O’Conor, und das so rasch, dass Charlotte es kaum mitbekam.

»Sollte ich mich irren?«, fragte Charlotte entschuldigend.

»Aber nein«, versicherte ihr Talulla. »Das liegt wohl lange zurück.«

»Ja, sicher zwanzig Jahre. Sie hat oft an einen Vetter geschrieben, vielleicht aber auch an die Frau des Vetters. Die

»Vor zwanzig Jahren«, sagte Phelim O’Conor gedehnt. »Damals gab es hier viel Ärger. Aber davon werden Sie in London wohl nichts mitbekommen haben. Möglicherweise hat Ihre Großmutter die Sache mit Charles Stewart Parnell, Gott sei seiner Seele gnädig, als romantisch empfunden. Das ist manchmal so mit dem Kummer anderer Menschen.« Sein Gesicht wirkte glatt, nahezu unschuldig, aber in seiner Stimme lag eine unauslotbare Schwärze.

»Entschuldigung«, sagte Charlotte. »Ich wollte an nichts Schmerzliches rühren. Hätte ich vielleicht lieber nicht fragen sollen?« Sie ließ den Blick zwischen Phelim und Talulla hin und her wandern.

Phelim zuckte kaum merklich die Achseln. »Zweifellos werden Sie ohnehin davon erfahren. Sollte die Frau Ihres Vetters Kate O’Neil gewesen sein, lebt sie nicht mehr, Gott möge ihr verzeihen …«

»Wie kannst du das sagen?«, stieß Talulla zwischen fest zusammengebissenen Zähnen hervor. »Zwanzig Jahre sind nichts! Ein Augenzwinkern in der leidvollen Geschichte unseres Landes. «

Charlotte bemühte sich, möglichst verwirrt und zugleich schuldbewusst dreinzublicken. Tatsächlich bekam sie allmählich ein wenig Angst. Offenbar hatte Phelim mit seiner Äußerung bei Talulla einen empfindlichen Nerv getroffen, denn anders ließ sich deren unverhüllte Wut nicht erklären.

»Seither hat es neues Blut und neue Tränen gegeben«, gab er, an Talulla gewandt, zurück. »Außerdem waren neue Aufgaben

Eigentlich hätte Charlottes gute Kinderstube verlangt, dass sie um Entschuldigung bat und sich zurückzog, damit die beiden auf ihre eigene Weise mit ihren Erinnerungen fertigwerden konnten. Doch sie dachte an Pitt, der allein in Frankreich festsaß, während es jetzt in Lisson Grove nur noch Feinde Narraways gab, die ohne weiteres auch seine Feinde sein konnten. In dieser Situation konnte sie sich den Luxus der guten Kinderstube nicht leisten.

»Gibt es da etwa eine Tragödie, von der meine Großmutter nichts wusste?«, fragte sie betont unschuldig. »Es tut mir leid, wenn ich an alte Wunden oder Ungerechtigkeiten gerührt haben sollte. Das war gewiss nicht meine Absicht. Sollte das der Fall sein, bitte ich um Entschuldigung.«

Talulla sah sie mit unverhohlener Erbarmungslosigkeit an. Ihre sonst bleichen Wangen waren leicht gerötet. »Für den Fall, dass Kate O’Neil die angeheiratete Kusine Ihrer Großmutter war, ist sie auf einen Engländer hereingefallen, der als Vertreter der Regierung der Königin hier im Lande war. Er ist um sie herumscharwenzelt und hat sie durch allerlei Schmeichelreden dazu gebracht, ihm die Geheimnisse ihres Volkes zu verraten. Anschließend hat er sie denen überlassen, deren Vertrauen sie missbraucht hatte, und die haben sie umgebracht.«

O’Conor zuckte zusammen. »Ich denke, sie hat ihn geliebt. Die Liebe kann jeden von uns zum Narren machen«, sagte er.

»Sicher!«, stieß Talulla hervor. »Aber der Schweinehund hat sie eben nicht geliebt. Das wäre ihr auch klargeworden, wenn sie nur einen Tropfen treues irisches Blut in den Adern gehabt hätte. Es wäre besser gewesen, sie hätte ihm seine Geheimnisse entlockt und ihm dann ein Messer zwischen die Rippen gejagt. Schon möglich, dass er die Gabe besaß, Leuten schön zu tun, aber er war nun mal der Feind ihres Volkes, und das muss

»Sie müssen sie entschuldigen«, sagte O’Conor betrübt. »Man könnte glauben, dass sie den Mann selbst geliebt hat, dabei ist das Ganze zwanzig Jahre her. Ich werde unbedingt daran denken müssen, nie mit ihr zu flirten, denn wenn sie auf meinen Charme hereinfiele, würde ich möglicherweise eines Tages mit einem Messer zwischen den Rippen aufwachen.« Er zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich würde sie aber gar nicht erst darauf hereinfallen.« Er sagte nichts weiter, aber der Ausdruck auf seinem Gesicht sprach Bände.

Mit einem Lächeln, das so plötzlich kam, wie die Sonne im Frühling den Regen vertreibt, erzählte er ihr von dem Ort, an dem er zur Welt gekommen war, und von der Kleinstadt weiter im Norden, in der er aufgewachsen war, wie auch von seiner ersten Reise nach Dublin, die er im Alter von sechs Jahren unternommen hatte.

»Ich war sicher, dass Dublin der herrlichste Ort war, den ich je gesehen hatte«, sagte er und lächelte versonnen. »Eine Straße nach der anderen voller Gebäude, von denen jedes ohne weiteres der Palast eines Königs hätte sein können. Und manche dieser Straßen waren so breit, dass es für ein Kind eine Reise zu sein schien, sie zu überqueren.«

Mit einem Mal war Talullas so unvermittelt aufgebrochener Hass nichts weiter als ein kleiner Verstoß gegen das gute Betragen und ebenso rasch vergessen, als hätte jemand versehentlich einen Gast mit dem Ellbogen angestoßen und dabei dessen Wein verschüttet.

Aber Charlotte vergaß nichts davon. O’Conors plötzliche Charmeoffensive ging ebenso sehr auf den Wunsch zurück, etwas zu verbergen, wie auf seine unverkennbare Liebe zu seiner

Die Gesellschaft nahm ihren Fortgang. Die Speisen waren köstlich, und der Wein floss in Strömen. Man lachte viel, es gab geistreiche Gespräche und im Verlauf des späteren Abends auch Musik. Über all dem aber vergaß Charlotte weder die aufgewühlten Gefühle noch den Hass, derer sie Zeugin geworden war.

Während McDaid sie in seiner Kutsche zurückbrachte, gab sie trotz seiner vorsichtigen Nachfragen nichts preis und sagte lediglich, wie sehr sie die Gastfreundschaft des Ehepaars Tyrone genossen hatte.

»Und kannte jemand Ihre angeheiratete Kusine?«, erkundigte er sich. »In Bezug auf solche Dinge ist Dublin eine Kleinstadt, fast wie ein Dorf.«

»Ich glaube nicht«, gab sie in munterem Ton zurück. »Vielleicht finde ich ja später noch einen Hinweis auf sie. Immerhin ist O’Neil kein seltener Name. Genau genommen ist es auch nicht besonders wichtig.«

»Was diesen Punkt angeht, wage ich zu behaupten, dass unser Freund Victor das bezweifeln würde«, sagte er ganz offen. »Ich hatte den Eindruck, dass ihm das durchaus wichtig war. Meinen Sie, dass ich mich da irren könnte?«

Zum ersten Mal an jenem Abend sagte sie die volle Wahrheit. »Ich glaube, Sie kennen ihn weit besser als ich, Mr McDaid. Wir sind uns lediglich in bestimmten Situationen begegnet, und damit bekommt man kein vollständiges Bild von einem Menschen, finden Sie nicht auch?«

Da es in der Kutsche dunkel war, konnte sie seinem Gesicht nicht ansehen, was er darüber dachte.

»Trotzdem habe ich den unabweisbaren Eindruck, dass er Sie gut leiden kann, Mrs Pitt«, gab er zurück. »Was meinen Sie, irre ich mich damit ebenfalls?«

»Ich halte mich mit dem, was ich meine, gern zurück, Mr McDaid … oder besser gesagt, ich äußere mich nicht gern darüber«, gab sie zurück. Während sie das sagte, jagten sich ihre Gedanken. Sie versuchte sich zu erinnern, was Phelim O’Conor über Narraway gesagt hatte, und fragte sich, wie gut sie ihn wirklich kannte. Immer mehr nahm ihre Überzeugung zu, dass sich Talulla mit ihrer Darstellung von Kate O’Neils Verrat auf Narraway bezogen hatte. Diesen doppelten Verrat an ihrem Land und ihrem Gatten hatte Kate aus Liebe zu einem Mann begangen, der sie benutzt und dann zugelassen hatte, dass sie dafür ermordet wurde.