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Eine große Zahl der bedeutendsten Söhne Irlands hatte sich auf der Weltbühne einen Namen gemacht und war dabei von Engländern nicht zu unterscheiden. Zwar war allgemein bekannt, dass Oscar Wilde Ire war, doch seine Theaterstücke waren durch und durch englisch. Wahrscheinlich wussten die Leute auch, dass Jonathan Swift irischer Abkunft war – aber wie war es mit Bram Stoker, dem Schöpfer des bösen Grafen Dracula, und dem bedeutenden Herzog von Wellington, dem Sieger von Waterloo und späteren Premierminister Englands? Dass all diese Männer die irische Heimat in jungen Jahren verlassen hatten, änderte nicht das Geringste an ihrer Abstammung.

Zwar hatte Charlotte keine irische Vorfahren, doch nachdem sie behauptet hatte, eine irische Großmutter zu haben, war es vielleicht angebracht, die ganze Sache sensibler zu betrachten und für die Gefühle der Iren etwas mehr Verständnis aufzubringen.

Gegen Abend zog sie erneut ihr einziges schwarzes Kleid an, diesmal mit anderem Schmuck und anderen Handschuhen. Ihre Frisur zierte ein Schmuckstück, das ihr Emily vor Jahren geschenkt hatte. Dann fragte sie sich besorgt, ob sie für das Theater vielleicht übertrieben gut gekleidet war. Sie überlegte sich, ob andere Frauen weniger Aufwand treiben würden. Immerhin war es denkbar, dass die Iren als gebildete und kultivierte Menschen in einem Theaterabend weniger ein gesellschaftliches Ereignis sahen, als vielmehr das intellektuelle Vergnügen und die innere Bewegung in den Vordergrund stellten.

Sie nahm den Haarschmuck ab und musste dann ihre Frisur neu ordnen. Das kostete Zeit, und so war sie ziemlich aufgeregt, als Narraway an ihre Tür klopfte, um ihr mitzuteilen, McDaid sei da, um sie abzuholen.

»Danke«, sagte sie und legte rasch den Kamm auf die Frisierkommode, wobei ihr mehrere lose Haarnadeln zu Boden fielen, ohne dass sie weiter darauf achtete.

Er sah sie besorgt an. »Alles in Ordnung?«

»Ja. Ich war mir einfach nicht ganz sicher, was ich anziehen sollte«, tat sie seine Sorge mit einer Handbewegung ab.

Er musterte sie gründlich. Seine Augen wanderten von ihren Schuhen, deren Spitzen unter dem Saum ihres Kleides zu sehen waren, bis hinauf zu ihrer Stirn. Sie spürte, wie ihre Wangen brannten, als sie in seinen Augen die unverhohlene Bewunderung erkannte.

»Du hast es genau richtig gemacht«, gab er schließlich sein Urteil ab. »Brillantschmuck wäre hier gänzlich unangebracht. Die Iren nehmen ihr Theater sehr ernst.«

Sie holte Luft, um zu erwidern, dass sie derlei nicht besitze, doch dann ging ihr auf, dass er sich über sie lustig machte. Sie fragte sich, ob er einer Frau, die er liebte, Diamanten schenken würde. Wahrscheinlich nicht. Falls er zu dieser Art Liebe fähig war, würde er wohl eher etwas Persönlicheres und Einfallsreicheres schenken: ein Häuschen am Meer, wie klein auch immer, einen geschnitzten Vogel, ein Musikstück.

»Da bin ich aber froh«, sagte sie und sah ihm in die Augen. »Mir erschien das ebenfalls als zu ordinär.« Sie nahm den Arm, den er ihr anbot, und legte die Finger so leicht auf den Stoff seines Jacketts, dass er kaum etwas gespürt haben dürfte.

McDaid war ebenso elegant gekleidet wie am Vorabend, doch weniger formell. Er schien sich zu freuen, sie wiederzusehen, obwohl ihr Abschied noch nicht lange zurücklag, und erklärte sich bereit, ihr das irische Theater zu erläutern, damit sie so viel davon verstand, wie das einer Engländerin möglich war. Bei diesen Worten lächelte er ihr zu, als handele es sich um eine geheime Botschaft, von der ihm klar war, dass sie sie verstand.

Sie war schon ziemlich lange nicht im Theater gewesen, da Pitt nicht viel dafür übrig hatte, und ohne ihn mochte sie nicht gehen. Gelegentlich allerdings begleitete sie Emily und Jack und genoss einen solchen Abend in vollen Zügen. Am angenehmsten aber waren ihr Theaterbesuche mit Tante Vespasia. Da diese jedoch gegenwärtig tief bekümmert über die Hetzkampagne gegen Oscar Wilde sowie über die Art war, wie man die Affäre zwischen ihm und Lord Queensberry in der Öffentlichkeit breittrat, hatte sie in letzter Zeit keine rechte Lust gehabt, ins Theater zu gehen.

Hier in Dublin war nun so manches anders. Da das Theater deutlich kleiner war als die großen Londoner Theater, herrschte dort eine nahezu familiäre Atmosphäre. Offensichtlich

McDaid stellte sie mehreren seiner Bekannten vor, die ihn begrüßten. Sie schienen sich sowohl vom Alter wie auch – so weit sich das dem äußeren Erscheinungsbild entnehmen ließ – von ihrer gesellschaftlichen Stellung her sehr zu unterscheiden. Man hätte glauben können, er habe sie aus so vielen Berufen wie möglich ausgewählt.

»Mrs Pitt«, sagte er munter. »Sie ist aus London zu uns gekommen, um zu sehen, wie wir leben, hauptsächlich, weil unsere schöne Stadt sie interessiert, zum Teil aber auch, weil sie versuchen will, Spuren ihrer irischen Vorfahren zu finden. Wer könnte sie dafür tadeln? Welcher Mensch mit wachem Geist und heißem Herzen hätte nicht gern ein wenig irisches Blut in den Adern?«

Sie reagierte freundlich auf das Willkommen, das man ihr bot, und fand die Unterhaltung angenehm. Sie hatte fast vergessen, wie belebend es sein konnte, Menschen mit frischen Gedanken kennenzulernen. Gleichzeitig dachte sie gründlich über das nach, was Narraway über McDaid gesagt hatte. Aus dessen Antworten auf die Fragen einer oder zweier etwas neugieriger Damen schloss sie, dass er weit mehr wusste, als Narraway hatte durchblicken lassen.

Sie betrachtete aufmerksam das Gesicht ihres Begleiters, sah darauf aber nichts als gute Laune, Interesse und Freude. Dennoch war sie überzeugt, dass ihm Dinge bekannt waren, die er auf keinen Fall preiszugeben bereit war.

Obwohl sie recht früh gekommen waren, schienen die meisten Besucher schon da zu sein, als sie ihre Plätze einnahmen. Während McDaid noch mit Bekannten plauderte, hatte sie Gelegenheit, sich umzusehen und einige Gesichter zu mustern. Die Unterschiede zwischen den Besuchern hier und denen der Londoner Theater waren nicht besonders groß. Man sah

Außerdem hörte sie natürlich die ihr bereits vom Vortag vertraute andersartige melodiöse Sprechweise. Von Zeit zu Zeit bedienten sich Menschen einer ihr völlig unverständlichen Sprache, in der weder der geringste Hinweis auf lateinische oder französische Wörter noch auf solche aus germanischen Sprachen lag, aus denen sich so viele englische Wörter herleiteten. Sie nahm an, dass es sich um Gälisch handelte, die eigentliche Muttersprache der Iren. Lediglich anhand der Gesten, des Gelächters und der Gesichtsausdrücke konnte sie Rückschlüsse auf das Gesagte ziehen.

Ein Mann fiel ihr wegen seiner mit Grau durchsetzten schwarzen Tolle besonders auf. Er hatte einen schmalen Kopf, und erst als er sich zu ihr umwandte, sah sie, wie dunkel seine Augen waren. Seine Nase war stark gekrümmt, so dass das Gesicht schief wirkte. Auf seinen Zügen glaubte sie den Ausdruck großer Verwundbarkeit zu erkennen. Zu ihrer Erleichterung wandte er sich bald wieder ab, als habe er sie nicht gesehen. Sie hatte ihn unverhohlen angestarrt, und das war ungehörig, ganz gleich, wie interessant man einen Menschen finden mochte.

»Sie haben ihn gesehen«, bemerkte McDaid. Es war kaum lauter als ein Flüstern.

Verblüfft fragte sie: »Wen?«

»Cormac O’Neil.«

Sie wusste nicht, was sie denken sollte. Hatte sie sich so auffällig verhalten? » War das … ich meine … der Mann mit dem …« Sie wusste nicht, wie sie ihren Satz beenden sollte.