»Selbstverständlich. Sie halten mich doch nicht etwa für einen Hinterwäldler?« Er zuckte die Achseln. »Allerdings nur einmal. Die Stadt hat mir nicht zugesagt – und ich ihr auch nicht. Sie ist so ungeheuer groß, so voller Menschen und gleichzeitig so anonym. Man könnte dort leben und sterben, ohne je wahrgenommen zu werden.«
»Jedenfalls bin ich doch erst seit zwei Tagen in Dublin«, erinnerte sie ihn noch einmal, um das Schweigen zu füllen.
»Dann haben Sie mich eben auf den ersten Blick behext«, sagte er und lächelte plötzlich wieder. »Es tut mir leid, etwas Kränkendes über Ihre Heimat gesagt zu haben. Das ist unverzeihlich. Führen wir es auf meine eigene Unzulänglichkeit inmitten von drei Millionen Engländern zurück.«
»Oh, unter denen gibt es eine ganze Menge Iren, das dürfen Sie mir glauben«, sagte sie lächelnd. »Und keiner von denen ist im Geringsten unzulänglich.«
Er verneigte sich.
»Und ich habe in unverantwortlicher Weise Ihre Einladung angenommen, weil ich mich geschmeichelt fühlte?«, fragte sie in herausforderndem Ton.
»Nein, Sie haben Recht«, räumte er ein. »Wir müssen gemeinsame Bekannte haben – irgendeine hochachtbare Tante, würde ich sagen. Haben Sie solche Verwandten?«
»Meine angeheiratete Großtante, Lady Vespasia Cumming-Gould. Wenn die Sie mir empfohlen hätte, würde ich Sie ohne das geringste Zögern an jeden beliebigen Ort auf der Welt begleiten«, gab sie zurück.
»Das klingt nach einer bezaubernden Dame.«
»Das ist sie auch. Sie können mir glauben. Wenn Sie wirklich mit ihr zusammengetroffen wären, würden Sie nicht wagen, mich anders als mit der größten Achtung zu behandeln.«
»Wie heißt diese bemerkenswerte Dame, und wo habe ich sie kennengelernt?«
»Lady Vespasia Cumming-Gould. Der genaue Ort ist unerheblich. Sie würden jede Umgebung sogleich vergessen, wenn Sie sie sehen würden. London genügt voll und ganz.«
»Lady Vespasia Cumming-Gould«, sagte er in einem Ton, als ließe er sich den Namen auf der Zunge zergehen. »Den Namen muss ich schon einmal gehört haben.«
»Sie hat in ganz Europa Aufsehen erregt«, teilte sie ihm mit. »Ihnen muss klar sein, dass sie von unbestimmtem Alter ist, aber ihr Haar ist silberfarben, und sie hat einen Gang wie eine Königin. Sie war die schönste und aufregendste Frau ihrer Generation. Wenn Sie das nicht wissen, ist sofort klar, dass Sie ihr nie begegnet sind.«
»Ich bin zutiefst enttäuscht, dass es mir nicht vergönnt war.« Er bot ihr den Arm, und sie schritten die Treppe hinab. Im Foyer hatte sich bereits ein großer Teil des Publikums versammelt, um Bekannte zu begrüßen und Kommentare über das Gesehene abzugeben.
Nach einigen weiteren Minuten angeregten Plauderns stellte McDaid sie einem ungewöhnlich großen Mann namens Ardal Barralet sowie einer Dame namens Dolina Pearse vor, die durch ihr wild gelocktes Haar auffiel. Neben den beiden stand Cormac O’Neil, doch war offensichtlich, dass er nicht in ihrer Gesellschaft war.
»Ach, da ist ja O’Neil!«, sagte McDaid mit einer Stimme, die überrascht klang. »Ich habe Sie ewig lange nicht gesehen. Wie geht es denn?«
Barralet wandte sich um, als habe er O’Neil nicht gesehen, der so dicht neben ihm stand, dass sich ihre Frackschöße berührten.
»’n Abend, O’Neil. Gefällt Ihnen das Stück? Hinreißend, finden Sie nicht auch?«, sagte er im Plauderton.
O’Neil blieb nichts anderes übrig, als darauf einzugehen, wenn er den Mann nicht offen vor den Kopf stoßen wollte.
»Grandios«, sagte er und sah Barralet an. Seine tiefe Stimme klang äußerst gepflegt, als sei auch er ein Schauspieler, der die Wörter liebkoste, indem er sie aussprach. Ohne zu Charlotte hinzusehen, begrüßte er ihre Nachbarin mit den Worten »Guten Abend, Mrs Pearse.«
»Guten Abend, Mr O’Neil«, gab sie kalt zurück.
»Natürlich kennen Sie Fiachra McDaid«, füllte Barralet das plötzlich eingetretene Schweigen. »Aber vielleicht nicht Mrs Pitt? Sie ist erst seit kurzem in Dublin.«
»Schön, Sie zu sehen, Mrs Pitt«, sagte O’Neil höflich, doch ohne jede Spur von Interesse, und sah dann McDaid mit einem plötzlich aufflammenden Ausdruck an, den Charlotte nicht zu deuten vermochte.
McDaid erwiderte seinen Blick gelassen, und der Moment war vorüber.
Charlotte fragte sich, ob sie das gesehen oder es sich nur eingebildet hatte.
» Was führt Sie hierher, Mrs Pitt?«, erkundigte sich Dolina Pearse, unübersehbar aus dem Wunsch heraus, die Situation zu entspannen, indem sie das Thema wechselte. Weder in ihrer Stimme noch auf ihrem Gesicht lag der geringste Anflug von Interesse.
»Ich habe viel Gutes über die Stadt Dublin gehört«, gab Charlotte zurück, »und den Entschluss gefasst, angenehme Dinge in Zukunft nicht aufzuschieben, wenn sie sich sofort erledigen lassen.«
»Typisch englisch«, murmelte Dolina, »und ausgesprochen wohlerzogen«, fügte sie hinzu, als langweile sie das entsetzlich.
Charlotte spürte, wie Zorn in ihr aufstieg. Sie sah die Frau an und erklärte: »Wenn es als wohlerzogen gilt, nach Dublin zu kommen, hat man mich falsch informiert. Ich hatte gehofft, dass es vergnüglich sein würde.«
McDaid lachte laut heraus, offensichtlich von dieser Parade höchst belustigt. »Es kommt ganz darauf an, worin man seine Vergnügungen sucht, meine Liebe. Oscar Wilde, der arme Kerl, ist natürlich einer von uns und hat die Welt zum Lachen gebracht. Jahrelang haben wir versucht, die Engländer so gut nachzuahmen, wie wir konnten. Jetzt endlich sind wir dabei,
»Das erklärt eine ganze Menge«, sagte Charlotte und dankte ihm mit einem leichten Neigen des Kopfes. Ihr war klar, dass O’Neil sie beobachtete, möglicherweise, weil sie die Einzige in der Gruppe war, die er nicht kannte. Sie wollte unbedingt auf irgendeine Weise mit ihm ins Gespräch kommen, war er doch derjenige, von dem Narraway vermutete, dass er die ganze unselige Sache angezettelt hatte. Was nur konnte sie sagen, was nicht gezwungen klang? Sie sah ihn offen an, damit er sich genötigt fühlte, ihr entweder zuzuhören oder sie offen zu brüskieren.
»Möglicherweise war der Ausdruck ›vergnüglich‹ etwas unbedacht«, sagte sie halb entschuldigend. »Ich würze mein Vergnügen gern mit einer Prise Nachdenklichkeit und gelegentlich auch mit dem einen oder anderen schwer zu lösenden Rätsel, um den Genuss zu verlängern. Ein Theaterstück, bei dem man gleich alles versteht, ist oberflächlich, finden Sie nicht auch?«
Seine harten Züge wurden ein wenig weicher. » Wenn das so ist, werden Sie Irland als glückliche Frau verlassen«, teilte er ihr mit. »Bestimmt werden Sie uns nicht in einer Woche oder einem Monat verstehen, wahrscheinlich nicht einmal in einem ganzen Jahr.«
» Weil ich Engländerin bin? Oder weil die Iren so schwer zu verstehen sind?«, setzte sie nach.
»Weil wir uns meistens selbst nicht verstehen«, gab er mit leichtem Schulterzucken zurück.
»Das gilt für uns alle«, erwiderte sie. Jetzt sprachen sie miteinander, als sei sonst niemand anwesend. »Nur langweilige Menschen glauben, sie seien leicht zu verstehen.«
»Man kann langweilig sein, indem man stets laut versucht, sich selbst zu verstehen.« Er lächelte, wobei sich der Ausdruck seines Gesichts vollständig veränderte. »Aber wir tun es auf poetische Weise. Auf die Nerven geht man anderen erst, wenn man anfängt, sich zu wiederholen.«
»Aber wiederholt sich die Geschichte nicht ständig selbst, so, wie in der Musik Variationen ein Thema wieder aufnehmen? «, fragte sie. »Jede Generation, jeder Künstler, fügt eine andere Note hinzu, doch die Grundmelodie bleibt dieselbe. «
»Die Englands ist in Dur geschrieben.« Er verzog den Mund, während er das sagte. »Viel Blech und Schlagzeug. Die von Irland hingegen in Moll – Holzbläser und verklingende Akkorde. Vielleicht hier und da ein Violinsolo.« Er sah sie aufmerksam an, als spielten sie ein Spiel, bei dem einer gewinnen und der andere verlieren würde. War ihm bereits bekannt, wer sie war? Wusste er, dass sie mit Narraway gekommen war und warum?