Sie versuchte diese Überlegung als absurd von sich zu weisen, dann aber fiel ihr ein, dass jemand Narraway bereits überlistet hatte. Das durfte man als durchaus bemerkenswerte Leistung ansehen, denn dafür war außer dem glühenden Wunsch nach Rache eine hohe Intelligenz erforderlich. Vor allem aber waren, um das Geld auf Narraways Bankkonto zu überweisen, Verbindungen zu Lisson Grove nötig, und zwar zu Leuten in einflussreicher Position, die darüber hinaus bereit waren, ihrem Vorgesetzten in den Rücken zu fallen. Dieser Gedanke ließ sie vor Furcht erstarren.
Mit einem Mal erschien ihr die Sache weitaus bedrohlicher als bisher. Während sie zögerte weiterzusprechen, merkte sie,
»Ich finde immer, dass die Violine der menschlichen Stimme sehr ähnlich klingt«, sagte Charlotte mit einem Lächeln. »Sie nicht auch, Mr O’Neil?«
Einen Augenblick lang flackerte in seinem Blick Überraschung auf. Offensichtlich war er auf eine andere Äußerung gefasst gewesen, möglicherweise eine, mit der sie sich gegen ihn zur Wehr setzte. »Haben Sie nicht damit gerechnet, dass die Stimme der Helden Irlands menschlich klingt?«, fragte er. Der Blick seiner Augen zeigte, dass er diesen melodramatischen Hinweis nur halb ernst meinte.
»Nicht unbedingt«, gab sie zurück, wobei sie es vermied, McDaid oder Dolina Pearse anzusehen. »Ich hatte eher an etwas Heroisches, wenn nicht gar Übermenschliches, gedacht. «
»Das hat gesessen«, sagte McDaid leise. Er nahm Charlottes Arm mit überraschend festem Griff. Sie hätte seine Hand nicht einmal abschütteln können, wenn sie es gewollt hätte. »Leider müssen wir jetzt zurück.« Er entschuldigte sich bei den anderen und führte sie nach einem knappen Abschied davon. Fast hätte sie ihn gefragt, ob sie jemanden gekränkt habe, doch sie wollte die Antwort lieber nicht hören, und sie dachte auch nicht daran, sich zu entschuldigen.
Als sie wieder ihre Plätze eingenommen hatten, merkte sie, dass man von ihrer Loge aus das Publikum im Parkett ebenso gut sah wie die Bühne. Ein Blick auf McDaids Gesicht zeigte ihr, dass er das mit Absicht so eingerichtet hatte, doch sie äußerte sich nicht dazu.
Sie hatten ihre Loge gerade rechtzeitig erreicht, denn schon ging der Vorhang auf, und die Handlung des Stücks nahm sie sogleich wieder gefangen. Es fiel ihr trotz der großen Gefühle schwer, den Dialogen zu folgen, die voller Anspielungen
In einer Loge ihnen nahezu genau gegenüber sah sie das Ehepaar Tyrone. Sie konnte beider Gesichter ziemlich deutlich erkennen. John folgte dem Bühnengeschehen so aufmerksam, dass er sich leicht vorbeugte, als wolle er sich kein Wort entgehen lassen. Bridget sah zu ihm hin, wandte sich dann aber ab, als sie merkte, wie konzentriert er war, und ließ ihrerseits den Blick durch den Saal schweifen. Charlotte nahm das Opernglas, das ihr McDaid geliehen hatte, vor die Augen, nicht etwa, um die Schauspieler auf der Bühne besser sehen zu können, sondern damit niemand merkte, wohin sie blickte, und beobachtete Bridget aufmerksam. Als diese einen Mann entdeckte, der links unter ihr im Parkett saß, sah sie lange zu ihm hin. Obwohl Charlotte lediglich seinen Hinterkopf sehen konnte, war sie sicher, dass sie ihn schon einmal gesehen hatte, doch fiel ihr nicht ein, wo.
Bridget sah weiterhin unverwandt zu ihm hin, als wolle sie ihn dazu veranlassen, seinen Blick auf sie zu richten.
Die Handlung auf der Bühne spitzte sich zu, doch bekam Charlotte das nur am Rande mit, da sie sich weiterhin auf die Zuschauer im Saal konzentrierte. John Tyrone ließ nach wie vor die Schauspieler nicht aus den Augen. Der Mann im Zuschauerraum wandte endlich den Kopf und hob den Blick zu den Logen, die er eine nach der anderen abzusuchen schien, bis er Bridget entdeckt hatte. Charlotte erkannte ihn sofort, als sie ihn im Profil sah – es war Phelim O’Conor. Mit einem für sie nicht deutbaren Gesichtsausdruck hielt er den Blick unverwandt auf Bridget gerichtet.
Diese wandte den Kopf rasch beiseite, als sich ihr Mann vom Geschehen auf der Bühne löste und zu ihr hersah. Sie wechselten einige Worte miteinander.
Jetzt wandte sich O’Conor erneut der Bühne zu und beobachtete, was sich dort abspielte. Er hielt sich völlig reglos, während die Handlung erkennbar einem Höhepunkt entgegenstrebte und die Schauspieler einander wild gestikulierend zu bedrohen schienen.
In der zweiten Pause nahm McDaid Charlotte wieder mit ins Foyer, an dessen Bar Erfrischungen serviert wurden. Alle Gespräche schienen sich um das Stück zu drehen, die Qualität der Darbietung, die Frage, ob sie die Aussageabsicht des Autors deutlich machte und der Hauptdarsteller seiner Rolle gerecht wurde.
Während Charlotte zuhörte, sah sie sich aufmerksam unter den Anwesenden um. Doch wie sich zeigte, war unter ihnen niemand weiter, den sie kannte. Dennoch kamen ihr die Menschen in gewisser Weise vertraut vor. Manche von denen, die da an der Bar anstanden oder sich angeregt mit anderen unterhielten, ähnelten solchen, die sie vor ihrer Heirat gekannt hatte, so sehr, dass sie mehr oder weniger damit rechnete, sie wiederzuerkennen. Es war ein sonderbares Gefühl, angenehm und zugleich voll Wehmut, auch wenn sie ihr gegenwärtiges Leben um keinen Preis mit ihrem früheren vertauscht hätte.
»Gefällt Ihnen das Stück?«, erkundigte sich McDaid. Sie näherten sich der Bar, wo Cormac O’Neil mit einem Glas Whiskey in der Hand stand.
Ob McDaid wusste, wie wenig sie auf die Vorstellung geachtet hatte? Das war durchaus möglich. Sie wollte ihn weder belügen noch ihm die Wahrheit sagen.
Auch O’Neil schien gespannt auf ihre Antwort zu warten.
»Mir gefällt das Ganze. Es ist für mich ein wirkliches Erlebnis«, gab sie diplomatisch zurück. »Ich bin Ihnen außerordentlich
»Es freut mich, dass es Ihnen zusagt«, sagte McDaid mit einem Lächeln. »Ich war nicht sicher, ob es die richtige Wahl war, denn das Stück endet mit einem düsteren und schrecklichen Höhepunkt. Sie werden möglicherweise nicht viel davon verstehen.«
»Ist das die Absicht«, fragte sie, wobei sie den Blick zwischen den beiden Männern hin und her wandern ließ, »uns alle so sehr zu verwirren, dass wir Wochen oder gar Monate damit zubringen müssen herauszubekommen, welche Bedeutung wirklich dahintersteckt? Vielleicht finden wir dann ein halbes Dutzend verschiedener Möglichkeiten.«
Flüchtig trat ein Ausdruck von Überraschung und Bewunderung in McDaids Augen. In munterem Ton gab er zurück: »Es kann sein, dass Sie uns überschätzen, zumindest in diesem Fall. Ich nehme kaum an, dass die Gedankengänge des Autors so kompliziert waren.«
»An welche Möglichkeiten hatten Sie denn gedacht?«, erkundigte sich O’Neil mit leiser Stimme und in einem Ton, als handele es sich lediglich um eine Pausenplauderei. Allerdings nahm sie an, dass er darauf aus war, mit dieser Frage etwas zu ergründen.
»Fragen Sie mich in einem Monat noch einmal, Mr O’Neil«, sagte sie leichthin. »Natürlich liegt Wut darin, das kann jeder merken. Außerdem habe ich den Eindruck, dass es um eine Art Vorbestimmung geht, so, als gebe es für uns alle keine rechte Wahl und als sei unsere Handlungsweise von Geburt an vorgegeben. Mir sagt das nicht zu. Ich möchte nicht den Eindruck haben, dass … mich die Schicksalsmächte auf diese Weise beherrschen.«
»Sie sind Engländerin. Ihre Leute halten sich gern für die Herren der Geschichte. Wir in Irland haben gelernt, dass die Geschichte uns beherrscht«, erwiderte er. Auch wenn sich die Bitterkeit in seiner Stimme mit leichtem Spott und Lachen vermengte, war der Schmerz darin unverkennbar.
Es lag ihr auf der Zunge, ihm zu widersprechen, doch dann begriff sie, welche Gelegenheit sich ihr da bot. »Wirklich? Wenn ich das Stück richtig verstehe, geht es um eine gewisse allgemeingültige Unausweichlichkeit in der Liebe und im Verrat – eine Art düsteres und auf Urzeiten zurückgehendes Thema ähnlich dem in Romeo und Julia.«