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O’Neils Gesichtszüge spannten sich an, und selbst im Lampenlicht des von Menschen erfüllten Raumes konnte Charlotte sehen, dass er erbleichte. »Sehen Sie das darin?« Seine Stimme klang belegt, er schien beinahe an seinen Worten zu ersticken. »In dem Fall romantisieren Sie das Ganze, Mrs Pitt.« Jetzt war die Bitterkeit in ihm überwältigend, das merkte sie deutlich.

»Ach ja?«, fragte sie und tat einen Schritt beiseite, damit ein Paar passieren konnte, das Arm in Arm vorüberkam. Dabei trat sie absichtlich näher an O’Neil heran, als erforderlich war, um Platz zu machen, so dass er nicht hätte fortgehen können, ohne sie aus dem Weg zu schieben. »Welche härtere Wirklichkeit müsste ich erkennen? Rivalität zwischen verfeindeten Parteien, zerrissene Familien, unerfüllte Liebe, Verrat und Tod? Ich halte das nicht für wirklich romantisch, außer natürlich für uns Zuschauer im Theater. Für die davon Betroffenen dürfte es alles andere als das sein.«

Er sah sie mit einer Art schwarzer Verzweiflung in seinen tief liegenden Augen an. Es fiel ihr leicht zu glauben, dass Narraway mit seiner Vermutung Recht hatte und O’Neil seinen Hass zwanzig Jahre lang genährt hatte, bis ihm das Schicksal eine Möglichkeit zur Rache aufgezeigt hatte. Aber was war der Auslöser gewesen, was hatte sich verändert?

»Und als was sehen Sie sich, Mrs Pitt?«, fragte er dicht neben ihr so leise, dass McDaid es nahezu mit Sicherheit nicht hören konnte. »Sind Sie Zuschauerin oder Mitwirkende? Ist der Zweck Ihres Hierseins, sich das Blut und die Tränen Irlands anzusehen – oder sich in die Sache einzumischen, wie Ihr Freund Narraway?«

Sie war wie vor den Kopf geschlagen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Einen Augenblick lang waren die Gespräche der Menge um sie herum nichts anderes als ein Lärmteppich, den ebenso gut eine Gänseherde hätte erzeugen können. War es sinnvoll, die Verbindung zu ihm abzustreiten? Sicherlich würde es lächerlich wirken, wenn sie sich jetzt unwissend gebärdete.

»Ich wäre gern so etwas wie ein Deus ex Machina«, gab sie zurück. »Aber ich nehme an, dass dergleichen unmöglich ist.«

»Der Gott aus der Maschine wie im römischen Theater?«, fragte er ärgerlich. »Sie wollen also im letzten Akt auf die Bühne herabsteigen und einen unmöglichen Schluss bewirken, der dafür sorgt, dass sich alles in Wohlgefallen auflöst? Wie englisch Sie sind! Es ist geradezu absurd und unglaublich überheblich. Sie kommen zwanzig Jahre zu spät. Sagen Sie das Victor Narraway, wenn Sie ihn sehen. Hier gibt es nichts mehr auszubügeln.« Er wandte sich ab, bevor sie den Mund auftun konnte, und drängte sich an ihr vorüber. Weil er dabei gegen einen breitschultrigen Mann in einem blauen Jackett stieß, verschüttete er den Rest seines Whiskeys. Im nächsten Augenblick war er verschwunden.

Charlotte sah, dass McDaid mit dem Ausdruck eines gewissen Unbehagens neben sie trat.

»Es tut mir leid«, bat sie um Entschuldigung. Es hatte keinen Sinn, nach einer Erklärung zu suchen. Gründe spielten keine Rolle, und sie wusste nicht, inwieweit McDaid mit Narraways gegenwärtiger Schwierigkeit oder der Rolle vertraut war,

Er biss sich auf die Lippe. »Sie konnten das nicht wissen, aber Themen wie die Freiheit Irlands und Verräter an der Sache gehen O’Neil schmerzhaft nahe. Angehörige seiner Familie waren vor zwanzig Jahren verantwortlich für den Fehlschlag unseres großen Vorhabens.« Er zuckte die Achseln. »Was da im Hintergrund wirklich abgelaufen ist, haben wir nie erfahren. Sean O’Neil ist gehängt worden, weil er seine Frau Kate umgebracht hat. Es hieß immer, er habe das getan, weil sie den Engländern unsere Pläne verraten hatte, doch ist so mancher der Ansicht, in Wahrheit habe er sie mit einem anderen Mann ertappt. Wie auch immer sich das verhalten mag, wir haben wieder einmal versagt, und die Bitterkeit dieser Niederlage dauert bis in die Gegenwart an.«

Mord und der Strang. Kein Wunder, dass O’Neil verbittert war und der Kummer nie endete – und Narraway nach wie vor ein Schuldgefühl empfand, das schwer auf ihm lastete.

»Hatten Sie einen Aufstand geplant?«, fragte sie ruhig. Sie hörte die vielen Leute um sich herum.

»Natürlich«, gab McDaid mit einer Stimme zurück, die betont jeden Ausdruck vermied, so dass sie gekünstelt klang. »Damals lag die Selbstbestimmung für unser Volk in der Luft, die wir atmeten. Wir hätten wir selbst sein können, ohne den Mühlstein England um den Hals.«

»Sehen Sie das so?« Mit diesen Worten wandte sie sich ihm zu und sah ihn forschend an.

Sein Gesichtsausdruck entspannte sich, und er erwiderte ihr Lächeln, betrübt und ein wenig selbstironisch. »Damals jedenfalls habe ich es so gesehen, und immer wenn ich Cormac sehe, kommt mir die ganze Situation ins Gedächtnis. Jetzt

»Und was für Ziele wären das?«, fragte sie mit aufrichtigem Interesse.

Sein Lächeln wurde breiter, als wolle er damit die Frage abtun. »Die Reform längst überholter Gesetze und die Abschaffung gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten«, gab er zurück. »Mehr Gleichheit. Zweifellos sind es dieselben, für die Sie in Ihrer Heimat kämpfen. Wie ich höre, gibt es in London einige bemerkenswerte Frauen, die sich für allerlei Bestrebungen dieser Art einsetzen. Vielleicht werden Sie mir eines Tages über die eine oder andere etwas berichten?« Er sagte das in fragendem Ton, als sei ihm an einer Antwort gelegen.

»Gern«, sagte sie leichthin und versuchte, Fakten in ihrem Kopf zu ordnen, damit sie erforderlichenfalls eine brauchbare Auskunft geben konnte.

Er nahm erneut ihren Arm und führte sie durch das Menschengewimmel zu ihrer Loge zurück, ein höflicher, gastfreundlicher Mann mit trockenem Witz, voller Leben. Wie leicht könnte es ihr fallen zu vergessen, dass sie nicht hierhergehörte, und wie gefährlich wäre das – vor allem für sie, denn ihr Mann arbeitete für den Sicherheitsdienst, und McDaids alter Bekannter

Narraway fragte sich, was Charlotte im Theater wohl so alles herausfinden würde. Während er mit gesenktem Kopf in der warmen, feuchten Luft, die vom Wasser aufstieg, am Nordufer des Liffey am Arran-Kai entlangging, begann er zu fürchten, dass sie über ihn so manches in Erfahrung bringen würde, was er ihr lieber vorenthalten hätte, doch sah er keine Möglichkeit, das zu verhindern. Sie würde Cormac O’Neil treffen und zumindest zum Teil das Ausmaß seines Hasses wie auch die Gründe dafür erkennen.

Er lächelte bitter, als er sich vorstellte, wie sie ihrer Aufgabe nachging, all das herauszubekommen. Ob sie enttäuscht wäre, wenn sie hörte, welche Rolle er bei all dem gespielt hatte? War es reine Eitelkeit, wenn er annahm, sie schätze ihn so sehr, dass sie davon enttäuscht oder gar verletzt sein würde?

Nie würde er die Tage nach Kates Tod vergessen. Am schlimmsten war der Vormittag gewesen, an dem man Sean gehängt hatte. Die Härte dieser Strafe und der Kummer, den er darüber empfand, hatten einen kalten Schauer auf all die folgenden Jahre gelegt. Warum hatte er sich den Schmerz angetan, Charlotte davon zu berichten? Hatte er befürchtet, sie werde von sich aus etwas darüber in Erfahrung bringen, und es für besser gehalten, den Stoß selbst zu führen, als qualvoll darauf zu warten, dass ein anderer das tat?

Er hätte es besser wissen können. Die vielen im Sicherheitsdienst verbrachten Jahre hätten ihn sowohl Geduld als auch Selbstbeherrschung lehren müssen. Gewöhnlich legte er diese beiden Tugenden mit einer Perfektion an den Tag, die dafür sorgte, dass man ihn für so kalt wie einen Fisch hielt. Sicherlich

Er wollte unter keinen Umständen, dass sie etwas für ihn empfand oder sich um ihn grämte, wenn diese Gefühle auf einer Fehleinschätzung seines Wesens fußten.

Er lachte über sich selbst, so leise, dass es in seinen raschen Schritten auf den Pflastersteinen beinahe unterging. Wieso legte er eigentlich in seinem Alter so großen Wert auf die Meinung der Frau eines anderen?