Er zwang sich, auf seinen Weg und auf sein Ziel zu achten. Wenn er nicht dahinterkam, wer das für Mulhare bestimmte Geld fehlgeleitet und zurück auf sein Konto überwiesen hatte, wäre alles, was er über O’Neil erfuhr, bedeutungslos. Irgendjemand in Lisson Grove war an der Sache beteiligt. Den Iren machte er in diesem Zusammenhang keine Vorwürfe. Sie kämpften für ihr Land und ihre Freiheit, und bisweilen waren sie ihm deswegen sogar sympathisch. Aber der Mann im Sicherheitsdienst, der dahintersteckte, war zum Verräter an der eigenen Sache geworden, und das war etwas gänzlich anderes. Er wollte wissen und vor allem beweisen, wer das war. Der Schaden, den ein solcher Mensch anrichten konnte, war grenzenlos. Wenn er England so sehr hasste, dass er eine Möglichkeit gefunden hatte, dafür zu sorgen, dass Narraway bei der Regierung in Ungnade fiel, was konnte er da noch alles anrichten? War es sein eigentliches Ziel, an Narraways Stelle zu treten? Möglicherweise war die ganze Geschichte mit Mulhare nichts anderes als ein Mittel zu diesem Zweck. Aber ging es dabei wirklich um nichts als persönlichen Ehrgeiz, oder stand dahinter noch ein anderer, finstererer Zweck?
Tief in Gedanken, wäre er an der Gasse, die er suchte, beinahe vorübergegangen. Er bog in sie ein und musste sich auf den unebenen Steinen seinen Weg förmlich ertasten, so dunkel
Charlotte hatte er mit nach Dublin genommen, weil das seinem Wunsch entsprach, aber sie hatte ihre eigenen Gründe dafür, hier zu sein. Sofern er mit seiner Vermutung bezüglich des Verräters in Lisson Grove Recht hatte, würde eine der ersten Amtshandlungen jenes Menschen darin bestehen, Pitt kaltzustellen. Wenn er Glück hatte, würde man ihn einfach entlassen, doch es gab weit schlimmere Möglichkeiten. Einige davon gingen Narraway durch den Kopf, während die Tür geöffnet wurde. Man führte ihn in einen kleinen, entsetzlich stickigen Büroraum voller Hauptbücher, Rechnungsbücher und Stapel loser Blätter. Eine getigerte Katze hatte es sich vor dem Kaminfeuer bequem gemacht und rührte sich nicht, als er eintrat und sich setzte.
O’Casey saß hinter dem überladenen Schreibtisch, sein kahler Schädel glänzte im Licht der Gaslampe.
»Nun?«, fragte Narraway, bemüht, seine Ungeduld zu verbergen, so gut es ging.
O’Casey zögerte.
Narraway überlegte, ob er dem Mann drohen sollte. Ihm standen durchaus noch gewisse Machtmittel zur Verfügung, wenn sie auch jetzt nicht mehr durch die Gesetze gedeckt wurden. Er sog die Luft ein. Dann sah er erneut zu O’Casey hin und überlegte es sich anders. Er hatte wenig genug Freunde, da konnte er es sich nicht leisten, es sich mit einem von ihnen zu verderben.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte O’Casey mit leicht schief gelegtem Kopf. »Um der alten Zeiten willen will ich Ihnen helfen. Aber nicht mehr, als ich unbedingt muss, und das ist wenig genug. Und dann muss Schluss sein.«
»Ist mir klar«, gab ihm Narraway Recht. Es gab auf beiden Seiten Wunden und Schulden, die zum Teil noch nicht beglichen
»Lassen Sie den armen Mann doch um Gottes willen in Ruhe! Haben Sie ihm nicht schon alles genommen, was er hatte?«, rief O’Casey aus. »Sie sind doch wohl nicht auf das Kind aus, oder?«
»Das Kind?« Einen Augenblick verstand Narraway nicht. Dann kam ihm die Erinnerung – Kates und Seans Tochter. Sie war beim Tod ihrer Eltern erst sechs oder sieben Jahre alt gewesen. »Hat Cormac sie aufgezogen?«, fragte er.
»Natürlich nicht.« O’Casey warf ihm einen verächtlichen Blick zu. »Was hätte er denn mit einem sechsjährigen Mädchen anfangen sollen? Eine Kusine von Kate, ich glaube, sie hieß Maureen, hat sie zu sich genommen. Sie und ihr Mann. Sie haben sie als ihr eigenes Kind aufgezogen.«
Narraway empfand tiefes Mitleid mit dem Mädchen – Kates Tochter. Das hätte nie geschehen dürfen.
»Aber sie weiß, wer sie ist?«, fragte er.
»Selbstverständlich. Wenn sonst schon niemand, hat Cormac es ihr bestimmt gesagt.« O’Casey hob leicht die Schultern. »Es kann natürlich gut sein, dass das nicht die Wahrheit ist, wie Sie sie kennen. Das arme Kind. Manche Dinge bleiben besser ungesagt.«
Unwillkürlich überlief Narraway ein Schauder. An Kates Tochter hatte er nicht gedacht. Der Ausbruch von Gewalttätigkeit, dem man nicht mehr hätte Einhalt gebieten können, hatte so unmittelbar bevorgestanden, dass er nicht daran gedacht hatte, zu verhindern, was dann geschehen war. Er hatte nicht mit der Möglichkeit gerechnet, dass Kate sterben würde, es war nie Teil von ihrer beider Plan gewesen. Er hatte Sean gekannt. Ihn im Kampf gegen den Aufruhr zu hintergehen war eine Sache gewesen, eine gänzlich andere, ihn in Bezug auf Kate zu hintergehen.
Im Rückblick hatte er schon nach wenigen Wochen begriffen, dass Kate die Seiten gewechselt hatte, weil der Aufstand ihrer festen Überzeugung nach zum Scheitern verurteilt war und dabei weit mehr Iren als Engländer umgekommen wären. Aber sie hatte auch Sean gekannt. Er hatte nicht das Geringste dabei gefunden, sich ihrer Schönheit zu bedienen, um Narraway abzulenken, doch wäre er in seinen wildesten Träumen nicht auf den Gedanken gekommen, dass sie sich Narraway bereitwillig hingeben oder er ihr, schlimmer noch, etwas bedeuten könnte.
Als es dann dazu gekommen war, hatte sich Sean außerstande gesehen, ihr zu verzeihen. Er hatte gesagt, er habe sie für Irland umgebracht, aber Narraway wusste, dass er es um seiner selbst willen getan hatte und ihm selbst das auch klar gewesen war.
Und Cormac? Er hatte Kate ebenfalls geliebt. Hatte er den Eindruck gewonnen, in einem Kampf, den keine der beiden Seiten mit sauberen Mitteln führte, habe ein Engländer einen Iren an Verschlagenheit übertroffen? Oder hatte es daran gelegen, dass eine Frau, die er begehrte, aber nicht bekommen konnte, ihren Mann betrogen hatte: die Frau seines Bruders, die sich auf die Seite des Feindes geschlagen hatte – aus Gründen, die nur ihr bekannt gewesen waren, seien sie gut oder schlecht gewesen, politischer oder persönlicher Art?
Was hatte er Talulla gesagt?
War es denkbar, dass es in den letzten Monaten etwas Neues gegeben hatte? Falls ja, musste er feststellen, auf welche Weise sie es fertiggebracht hatte, das Geld von Mulhares Konto fernzuhalten und es mit Hilfe eines Verräters in Lisson Grove auf Narraways Konto zurückzuschleusen. Sie konnte das unmöglich allein bewerkstelligt haben. Wer also hatte ihr dabei geholfen?
»Wer hat Mulhare verpfiffen?«, fragte er O’Casey.
»Ich ahne es nicht«, gab dieser zurück, »aber ich würde es Ihnen auch nicht sagen, wenn ich es wüsste. Einer, der sein eigenes Volk verrät, hat verdient, dass man ihm seine dreißig Silberlinge wegnimmt und in einen Sack voll Blei steckt, ihm den um den Hals hängt und ihn dann in die Bucht von Dublin wirft.«
Narraway hatte Mulhare nicht besonders gut leiden können, aber er hielt es für ein Gebot der persönlichen Ehre, sich an Zusagen zu halten, ganz gleich, wem er sie gemacht hatte. Mit einem Wortbruch erreicht man im Krieg ebenso wenig wie mit einem zerbrochenen Schwert.
Er stand auf. Die Katze am Kaminfeuer streckte sich, drehte sich dann auf die andere Seite und rollte sich wieder zusammen.
»Danke«, sagte er.
»Kommen Sie ja nicht wieder«, knurrte O’Casey. »Ich werde nichts gegen Sie unternehmen, aber Ihnen auch bestimmt nicht unter die Arme greifen.«
»Das ist mir klar«, gab Narraway zurück.
Nach ihrer Rückkehr aus dem Theater hatte Charlotte keine Gelegenheit zu einem längeren Gespräch mit Narraway, und am folgenden Tag ebenso wenig. Sie trafen einander lediglich kurz zum Frühstück, aber diesmal saßen andere Pensionsgäste in Hörweite. Narraway teilte ihr mit, er habe Verschiedenes zu erledigen und von Dolina Pearse erfahren, Charlotte sei zur Eröffnung einer Kunstausstellung willkommen und anschließend bei Dolina mit deren Bekannten zu einer Teegesellschaft eingeladen. Er habe in ihrem Namen zugesagt.
»Danke«, sagte sie ein wenig distanziert.