Etwas dagegen zu sagen wäre sinnlos und geradezu grausam gewesen, denn damit hätte sie ihn nicht nur gekränkt, sondern überdies auch den Eindruck erweckt, als rechne sie nicht mit einem Erfolg, auf den sie doch beide so dringend angewiesen waren.
»Dann sollten wir uns besser ans Werk machen«, sagte sie, trat einen Schritt von ihm zurück und setzte sich wieder in Bewegung.
Die Gemäldeausstellung war herrlich, doch konnte sich Charlotte nicht recht auf die Bilder konzentrieren. Vermutlich würde
Während sie durch die Ausstellungsräume gingen und Bild für Bild ansahen, beobachtete Charlotte die anderen Frauen. Sie waren genauso gekleidet wie die in London. In dieser Saison verlangte die Mode Ärmel, die an den Unterarmen eng anlagen und an den Schultern breit gepufft waren, während die Röcke unten weit schwangen und ein als »Tournüre« bezeichnetes Gesäßpolster aufwiesen. Das Ganze machte einen außerordentlich weiblichen Eindruck, und die Frauen sahen aus wie voll erblühte große Blumen, wie Magnolienblüten oder Pfingstrosen. Wenn eine Gruppe von ihnen vorüberging und ihre Sonnenschirme über sich hielten, um ihr Gesicht zu schützen, wirkte das von ferne wie eine Blumenrabatte im Wind. So etwas hätte einer der Maler versuchen sollen darzustellen! Vielleicht hatte das der eine oder andere sogar getan, und sie war nur so unaufmerksam gewesen, es nicht zu merken.
Die Teegesellschaft im Hause Pearse erinnerte sie unwillkürlich an die »Morgenbesuche«, zu denen sie ihre Mutter in der Zeit vor ihrer Eheschließung begleitet hatte und die in Wahrheit stets am Nachmittag stattfanden. So gesittet sich alle der anwesenden Damen verhielten und so sehr sie jedes der ungeschriebenen Gesetze beachteten, dienten die höflichen Bemerkungen, die ausgetauscht wurden, in Wahrheit als Vorwand für Klatsch und spitze Bemerkungen.
»Wie gefällt es Ihnen bei uns in Dublin, Mrs Pitt?«, erkundigte sich Talulla Lawless höflich. »Nehmen Sie doch ein Gurkensandwich.
»Vielen Dank«, nahm Charlotte an. Ihr wäre gar nichts anderes übriggeblieben, selbst wenn sie Gurkensandwiches auf den Tod nicht hätte ausstehen können. »Die Stadt beeindruckt mich, und das würde wohl auch jedem anderen so gehen.«
»Ach, ich weiß nicht«, gab Talulla zurück. »Manche halten uns für ziemlich provinziell und unkultiviert.« Sie lächelte. »Aber vielleicht sagt Ihnen gerade das zu?« Damit ließ sie offen, ob Charlotte Dublin als eine Art Sommerfrische nach den Zwängen der Londoner Gesellschaft empfand oder selbst provinziell und unkultiviert war.
Sie erwiderte das Lächeln, ohne die geringste Wärme hineinzulegen. »Entweder war es diesen Leuten nicht ernst damit, oder aber, falls doch, ist Ihnen möglicherweise die Raffinesse Ihrer Wortwahl entgangen«, gab sie zurück. »Ich halte Sie ehrlich gesagt für alles andere als einfältig«, setzte sie noch eins drauf.
Talulla lachte klirrend. »Sie schmeicheln uns, Mrs Pitt. Es ist doch Mrs? Ich hoffe, dass ich keinen entsetzlichen Fehler begangen habe.«
»Machen Sie sich in dieser Hinsicht keine Sorgen, Miss Lawless«, gab Charlotte zurück. »Es ist weit von einem entsetzlichen Fehler entfernt, und wäre es einer, was nicht der Fall ist, ließe sich der ganz leicht wiedergutmachen. Es wäre wunderbar, wenn man alle Fehler so einfach aus der Welt schaffen könnte.«
»Ach je«, heuchelte Talulla Bestürzung. »Wie viel aufregender Ihr Leben in London sein muss als unseres hier. Ich finde das faszinierend.«
Nach kurzem Zögern entschloss sich Charlotte mitzuspielen. »Ich weiß, dass die Menschen dazu neigen, bei anderen
»Mir war gar nicht bekannt, dass Sie so großen Einfluss haben«, gab Talulla trocken zurück. »Da sollte ich wohl besser auf meine Worte achten.« Auf ihren Zügen mischten sich Spott und Ärger.
Charlotte senkte den Blick zu Boden. »Anscheinend habe ich etwas Unpassendes gesagt und dabei eine empfindliche Stelle getroffen. Das tut mir leid, und ich versichere Ihnen, dass es nicht meiner Absicht entsprach.«
»Ich habe ganz den Eindruck, dass vieles von dem, was Sie tun, unabsichtlich geschieht und anderen Schmerzen verursacht«, blaffte Talulla.
Seide raschelte, als zwei andere Damen unbehaglich berührt herübersahen. Eine von ihnen holte Luft, als wolle sie sich dazu äußern, dann aber sah sie lediglich schweigend zu Talulla hin.
»Ja, und bei Ihnen verhält es sich genau umgekehrt, Miss Lawless«, gab Charlotte zurück. »Ich will gern glauben, dass hinter jedem Wort, dass Sie sagen, eine bestimmte Absicht steckt.«
Man hörte, wie eine der Damen die Luft noch schärfer einsog. Eine andere kicherte nervös.
»Noch eine Tasse Tee, Mrs Pitt?«, erkundigte sich Dolina Pearse mit leicht zitternder Stimme. Es war unmöglich zu sagen, ob sie ein Lachen oder Tränen unterdrückte.
Charlotte hielt ihr die Tasse hin. »Vielen Dank. Das ist sehr freundlich von Ihnen.«
»Seien Sie nicht albern«, sagte Talulla mit Schärfe. »Das ist doch bloß Tee!«
»Die Engländer haben auf alles eine Antwort«, sagte Dolina Pearse. »Nicht wahr, Mrs Pitt?«
»Sie würden sich wundern, was man mit Tee alles anstellen kann, wenn er heiß genug ist«, gab Charlotte zurück und sah ihr dabei in die Augen.
»Am besten siedend heiß«, murmelte Dolina.
Nach dem Abendessen erstattete Charlotte Narraway Bericht über den Verlauf der Teegesellschaft. Sie saßen allein in Mrs Hogans Salon, dessen Türen zu dem kleinen Garten hin offen standen. Der Abend war mild, und die Wolken, die am nahezu vollen Mond vorüberzogen, warfen dunkle Schatten. In wortlosem Einverständnis standen sie auf und traten in die laue Luft hinaus unter die Bäume.
»Mehr habe ich nicht erfahren«, erklärte sie schließlich. »Außer, dass man uns nach wie vor nicht ausstehen kann. Aber wie könnten wir auch etwas anderes erwarten? Im Theater hat mir Mr McDaid etwas über O’Neil gesagt. Ich denke, es wäre an der Zeit, die Karten offen auf den Tisch zu legen – nicht, weil ich wissen möchte, was geschehen ist, sondern, weil ich es wissen muss.«
Er schwieg lange. Sie spürte deutlich seine Nähe, wie er da halb im Schatten eines Baumes einen Schritt weit von ihr entfernt stand. Obwohl schlank und nur wenig größer als sie, vermittelte er den Eindruck von großer Körperkraft, als bestehe er ausschließlich aus Muskeln, Sehnen und Knochen und als sei alles Weiche im Laufe der Jahre von ihm abgefallen. Sie unterließ es, ihm ins Gesicht zu sehen, teils, um nicht in seine Privatsphäre einzudringen, teils, weil sie den Ausdruck darauf lieber nicht sehen wollte. Das würde es ihnen beiden einfacher machen und es ihnen ermöglichen, nach der
»Ich kann dir nicht alles sagen«, begann er schließlich. »Die Iren hatten einen ziemlich weitreichenden Aufstand geplant, den wir verhindern mussten.«
»Und auf welche Weise?«, fragte sie ohne Umschweife.
Wieder gab er keine Antwort. Sie fragte sich, wie weit seine Geheimnistuerei damit zusammenhing, dass er sie schützen wollte, und wie weit damit, dass er sich der Rolle schämte, die er bei der Sache gespielt hatte, ganz gleich, ob er Grund dazu hatte oder nicht.
Warum nur stand sie zitternd hier unter den Bäumen? Wovor hatte sie denn Angst? Etwa vor Victor Narraway? Sie war bisher noch nicht auf den Gedanken gekommen, dass er sie verletzen könnte, sondern hatte eher die umgekehrte Befürchtung. Vielleicht war das lachhaft. Sofern er Kate O’Neil wirklich geliebt hatte und dennoch fähig gewesen war, sie seinem Land zuliebe zu opfern, würde er etwas Ähnliches bei Charlotte ohne weiteres ebenfalls fertigbringen. Es war denkbar, dass sie eins der zufälligen Opfer wurde, von denen Fiachra McDaid gesprochen hatte – ein Teil des Preises, der zu zahlen war. Sie war Pitts Gattin, und Narraway hatte auf seine Weise zu Pitt gehalten. Inzwischen war sie fest davon überzeugt, dass er in sie verliebt war. Wie aber konnte sie nur so naiv sein anzunehmen, das werde in seinen Augen an der Sache, der er diente, auch nur das Geringste ändern?