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Wie Kate O’Neil wohl ausgesehen haben mochte? Wie alt war sie gewesen? Hatte sie Narraway geliebt und damit nicht nur ihr Land verraten, sondern auch ihren Mann betrogen? Wie verzweifelt sie in dem Fall geliebt haben musste! Eigentlich hätte Charlotte sie dafür verachten müssen, doch empfand sie nichts als Mitleid und die Überzeugung, dass auch sie in eine vergleichbare Situation hätte geraten können. Hätte sie

Was für törichte Vorstellungen das waren!

»Du hast dich Kate O’Neils für deine Zwecke bedient, nicht wahr?«, fragte sie.

»Ja.« Seine Stimme war kaum lauter als das leise Rascheln des Nachtwinds im Laub, so dass sie das Wort kaum hören konnte. Sie zweifelte nicht im Geringsten daran, dass er sich seiner Handlungsweise schämte, und trotzdem hatte er sich nicht davon abhalten lassen. Zum Glück hatte er sie jetzt wenigstens nicht belogen.

Aber war dieser lange zurückliegende Fall tatsächlich der Grund für den konstruierten Vorwurf, den man ihm jetzt machte, er habe Geld unterschlagen?

Was war ihnen bei ihren Beobachtungen entgangen?

Was tat Pitt in Frankreich?

Hatte es seine Ordnung, dass sie und Narraway jetzt in Irland waren? Oder hatte jemand, der die Verletzlichkeit des Mannes nur allzu gut kannte, diesen stets so brillant intrigierenden Ränkeschmied überlistet – ging es in Wahrheit um etwas gänzlich anderes?

Sie wandte sich wortlos um und ging die wenigen Schritte zurück in Mrs Hogans Salon. Es gab nichts mehr zu sagen, jedenfalls nicht dort im sanften Nachtwind, der die Düfte des Gartens mit sich trug.

KAPITEL 6

Pitt machte sich Sorgen. Er stand im Sonnenschein an der Brüstung der Stadtmauer hoch über Saint Malo und sah von dort auf das blaue Wasser des Ärmelkanals hinaus. Das auf den Wellen tanzende Licht blendete so sehr, dass er die Augen zusammenkneifen musste. In der Bucht fiel das Segel eines Bootes schlaff, weil der Mann an der Pinne ein Wendemanöver durchführte.

Die alte und schöne Stadt Saint Malo hätte er bei anderer Gelegenheit sicherlich interessant gefunden. Wäre er mit seiner Familie hier gewesen, um Ferien zu machen, wäre er begeistert durch die mittelalterlichen Straßen und Gassen gestreift und hätte sich bemüht, mehr über die dramatische Geschichte des Ortes zu erfahren.

Aber so ließ ihn der Gedanke nicht los, dass er und Gower nur ihre Zeit vergeudeten. Sie beobachteten Frobishers Haus jetzt seit nahezu einer Woche, ohne etwas zu sehen, was ihnen den geringsten Hinweis darauf geliefert hätte, um welchen Geheimnisses willen Wrexham den zu Informationen an den Sicherheitsdienst bereiten West umgebracht haben könnte. Besucher kamen und gingen, Männer und Frauen. Weder Pieter Linsky noch Jacob Meister war ein zweites Mal aufgetaucht, wohl aber hatte es Abendgesellschaften mit mindestens

Gower, dessen Gesicht einen kräftigen Sonnenbrand aufwies, schlenderte über den Rundweg. Seine Haare wehten im Wind. Er blieb ein oder zwei Schritte von Pitt entfernt stehen und beugte sich dann ebenfalls über die Brüstung, als beobachte er das Segelboot.

»Wohin ist er?«, erkundigte sich Pitt leise, ohne ihn anzusehen.

»Ins selbe Café wie immer«, gab Gower zur Antwort. Gemeint war Wrexham, den sie abwechselnd Tag für Tag beschatteten. »Ich bin nicht reingegangen, weil ich nicht gesehen werden wollte. Derselbe dürre Mann wie beim vorigen Mal ist auch reingegangen und nach etwa einer halben Stunde wieder rausgekommen.«

Er sprach etwas rascher, und seine Stimme hob sich, als er fortfuhr: »Ich hab so getan, als ob ich auf jemand wartete, und die beiden eine Weile durch das offene Fenster beobachtet. Sie haben darüber geredet, dass noch mehr Leute kommen, ziemlich viele sogar. Es sah so aus, als ob sie die auf einer Liste abhakten. Die haben auf jeden Fall was vor.«

Pitt hätte gern die gleiche Erregung empfunden, wie sie sein Untergebener an den Tag legte, aber was sie im Laufe der vergangenen Woche erlebt hatten, schien ihm zu unergiebig. Er sah darin nichts, was bedeutende politische Veränderungen ankündigte. Seit langem beschäftigen er und Narraway sich gründlich mit Revolutionären, Anarchisten, Aufwieglern und Unruhestiftern aller Art. Was hier stattfand, wirkte viel zu beschaulich, es schien das harmlose Gerede von Leuten zu sein, die zu keinen wirklichen Risiken bereit waren. Gower war jung und hatte, womöglich unbewusst, den Eindruck, dass sie

»Die Leute haben sich noch mehr Austern kommen lassen«, bemerkte Pitt. »Wahrscheinlich gibt es da wieder eine große Gesellschaft. Ganz gleich, wie Frobishers politische Ansichten in Bezug auf die Veränderung der Lebensumstände der Armen aussehen, er scheint sich oder seinen Gästen auf keinen Fall etwas versagen zu wollen.«

»Er dürfte kaum rumziehen und lauthals aller Welt verkünden, was er vorhat … Sir«, gab Gower rasch zurück. »Solange man ihn für einen reichen harmlosen Idealisten hält, der nicht im Traum daran denkt, nach seiner Theorie zu leben, wenn er sich Freunde einlädt, wird ihn niemand ernst nehmen. Wahrscheinlich gibt es für ihn keine bessere Tarnung.«

Pitt dachte eine Weile darüber nach. Zweifellos hatte Gower mit dieser Annahme Recht. Trotzdem war ihm unbehaglich zumute. Er war immer mehr überzeugt, dass sie dort in Saint Malo ihre Zeit vertrödelten, doch konnte er kein einziges rationales Argument dafür finden. Alles stützte sich auf seinen durch lange Erfahrung geschulten Instinkt.

»Und was ist mit all den anderen, die ständig kommen und gehen?«, fragte er und wandte sich Gower zu, der lächelnd den Sonnenschein auf seinem Gesicht genoss. Unter ihm überquerte eine Frau in einem modischen roten Kleid mit Puffärmeln und einem weiten Rock den kleinen Platz und verschwand in dem schmalen Gässchen, das nach Westen führte. Zufrieden nickend, blickte Gower ihr nach.

Dann wandte er sich mit einem Gesicht, auf dem ein Ausdruck von Ratlosigkeit lag, Pitt zu. »Das sind etwa ein Dutzend. Halten Sie die wirklich für harmlos, Sir? Natürlich abgesehen von Wrexham.«

»Meinen Sie, dass es sich um lauter wilde Revolutionäre handelt, die sich mit Erfolg bemühen, den Eindruck biederer Bürger mit einem langweiligen und friedlichen Leben zu erwecken?«, erkundigte sich Pitt.

Lange schwieg Gower, als müsse er sorgfältig überlegen, was er darauf erwidern wollte. Er wandte sich um, lehnte sich gegen die Mauerbrüstung und sah auf das Wasser. »Bestimmt hatte Wrexham einen Grund, West umzubringen«, sagte er bedächtig. »Er selbst war nicht gefährdet, wenn man davon absieht, dass man ihn als Anarchisten – oder wie auch immer er sich selbst nennt – ansehen konnte. Vielleicht will er gar kein allgemeines Durcheinander, sondern eine bestimmte Gesellschaftsordnung, die er für gerechter hält und in der die Menschen weniger ungleich behandelt werden als jetzt. Es kann aber auch sein, dass er eine radikale Reform des Regierungssystems anstrebt. Was die Sozialisten genau wollen, gehört zu den Dingen, die wir in Erfahrung bringen müssen. Die können Dutzende unterschiedlicher Ziele verfolgen …«

»Das tun sie auch«, fiel ihm Pitt ins Wort. »Ihnen allen aber ist gemeinsam, dass sie nicht bereit sind, auf Reformen zu warten, die in allgemeiner Übereinstimmung durchgeführt werden. Sie wollen sie dem Volk aufnötigen und ihre Durchsetzung notfalls mit Gewalt erzwingen.«

»Und wie lange würde es dauern, bis jemand freiwillig Reformen einführt?«, fragte Gower mit einem Anflug von Sarkasmus. »Wer hat je seine Macht aufgegeben, ohne dazu gezwungen zu werden?«

Pitt ging in Gedanken seine Geschichtskenntnisse durch. »Da fällt mir nichts ein«, gab er zu. »Deswegen nimmt das

»Ich bin nicht sicher, dass die ehemaligen Sklaven dieser Einschätzung zustimmen würden«, sagte Gower mit einer Stimme, in der Bitterkeit mitschwang. »Vielleicht möchte Wrexham gern die Nachfolge des Menschenfreundes und Sklavenbefreiers William Wilberforce antreten?«