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Im Osten kündigte sich die bevorstehende Dunkelheit lediglich durch ein leichtes Verblassen des Himmels hinter den über ihn hinwegziehenden Wolken an.

Sorgfältig ging Pitt in Gedanken alles durch, was sie wussten, versuchte einzuordnen, was er selbst gesehen oder gehört hatte, und verglich es mit allem, was Gower berichtet hatte.

Nichts davon ergab einen Sinn, also musste etwas fehlen – oder hatten sie etwas falsch bewertet?

Als ein Fuhrwerk vorüberkam, dessen Räder Staubwolken aufwirbelten, stieg Pitt der angenehme Geruch von Pferdeschweiß und frisch gepflügter Erde in die Nase. Der Fuhrmann

Inzwischen sank die Sonne rascher, und die Farben des Himmels wurden lebhafter. Eine leichte Brise strich durch das Gras und das frische Laub der Weiden, die stets als erste Bäume den Frühling verkündeten. Mit rauschendem Flügelschlag stieg ein Vogelschwarm von einer rund hundert Schritt entfernten Baumgruppe auf, flog eine Runde und verschwand gleich darauf am Himmel.

Nach dem, was Pitt und Gower gesehen hatten, waren sie der Ansicht gewesen, es lohne sich, Frobishers Haus im Auge zu behalten. Falls sie Wrexham jetzt festnahmen, wäre das für alle Beteiligten ein unübersehbarer Hinweis darauf, dass der Sicherheitsdienst ihre Pläne kannte, und sie würden sie umgehend ändern.

Sie hätten den Mann gleich in London festnehmen sollen. Zwar hätte er ihnen nichts gesagt, aber sie hatten auch so nichts in Erfahrung gebracht, sondern lediglich kostbare Zeit vergeudet.

Wie hatte er das nur zulassen können? West hatte ihnen wichtige Informationen versprochen und das Treffen mit ihnen vereinbart. Pitt sah den Brief noch vor sich, die in fehlerhafter Rechtschreibung und vielleicht vor Angst schief und eilig hingekritzelten Wörter, die Tintenkleckse auf dem Papier.

Niemand außer Gower und ihm hatte davon gewusst. Auf welche Weise also hatte Wrexham davon erfahren? Wer hatte West verraten? Es konnte nur einer von denen gewesen sein, die an der Planung dessen beteiligt waren, was ihnen der arme West hatte enthüllen wollen.

Wieso hatte West Fersengeld gegeben, als sich Pitt und Gower dem vereinbarten Treffpunkt genähert hatten? Sie hatten

Ob das stimmte? War es ein entsetzlicher Zufall gewesen, dass West auf Wrexham gestoßen war?

Noch einmal ging Pitt in Gedanken den Weg, den sie genommen hatten. Er kannte Londons Straßen und Gassen gut genug, um sie vor seinem inneren Auge wie auf einem Stadtplan zu sehen und ihnen Schritt für Schritt zu folgen. Außer ihnen war niemand aus der Menschenmenge gerannt. West war um eine Ecke geeilt und aus Pitts Blickfeld verschwunden. Gower war ihm gefolgt und hatte einen Arm ausgestreckt, um Pitt die Richtung anzuzeigen, in die es ging. Pitt hatte in der langen, schattigen Gasse vielen Menschen ausweichen müssen, und dann hatte die nächste Hauptstraße schon vor ihnen gelegen, als Gower bei dem Versuch, West zu schnappen, gestrauchelt, gegen eine Mauer geprallt und stehen geblieben war.

Pitt hatte West eine ganze Weile allein weiterverfolgt und schließlich aus den Augen verloren – und dann war Gower unvermittelt aus einer Seitenstraße zu ihm gestoßen und hatte ihn mit sich gezogen. Er hatte genau gewusst, welchen Weg sie weiter nehmen mussten, und Pitt geradewegs zu Wests Leichnam geführt.

Pitt stolperte und blieb stehen. Mit einem Mal war ihm alles klar: Gower war ein glänzender Läufer. Er hätte, nachdem er gegen die Mauer geprallt war und einen Moment innegehalten hatte, Pitt und West in einigem Abstand folgen und dann, während Pitt die Fährte verloren hatte, mit etwas mehr Glück West auf den Fersen bleiben und ihn auf Höhe

Dies »anderswo« konnte nur London sein, weil es andernfalls sinnlos gewesen wäre, Pitt von dort wegzulocken.

Gower also. In einer Viertelstunde oder zwanzig Minuten würde Pitt wieder in Saint Malo sein. Gower würde höchstwahrscheinlich schon in ihrer Pension auf ihn warten. Mit einem Mal sah Pitt ihn nicht mehr als den umgänglichen und ehrgeizigen jungen Mann, als der er ihm noch am Vormittag erschienen war, sondern als einen gerissenen und äußerst gefährlichen Fremden, den er nur oberflächlich kannte. Er wusste von Gower, dass er einen tiefen Schlaf hatte, leicht Sonnenbrand bekam, gern Schokoladenkuchen aß, sich gelegentlich beim Rasieren schnitt, auf dunkelhaarige Frauen flog und recht gut singen konnte. Er hatte aber nicht die geringste Vorstellung davon, woher der Mann kam, woran er glaubte oder auf wessen Seite er stand – kurz, von all den Dingen, auf die es ankam und die seine Handlungsweise in dem Augenblick bestimmen würden, da man ihm die Maske vom Gesicht riss.

Jetzt sah sich Pitt mit einem Mal genötigt, selbst eine Maske zu tragen, denn sein Leben konnte davon abhängen, dass er Gower etwas vorspielte. Mit einem Frösteln dachte er daran,

Pitt hatte niemanden, an den er sich wenden konnte. In Frankreich wusste man nicht, wer er war, und von London konnte er vor Ort keinerlei Unterstützung erwarten. Ebenso gut hätte Saint Malo in einer anderen Welt liegen können. Selbst wenn er ein Telegramm an Narraway schickte, würde das nichts bewirken. Gower würde einfach irgendwohin verschwinden – Europa war groß.

Er ging weiter. Die Sonne hatte jetzt den Horizont erreicht und würde binnen weniger Minuten nicht mehr zu sehen sein. Bis er die Stadt erreichte, würde es so gut wie dunkel sein. Bis er an ihrer Pension ankam, blieb etwa eine Viertelstunde, sich zu entscheiden, was er tun wollte. Ein winziger Fehler, ein falsches Wort konnte sein Ende bedeuten.

Er dachte an die wilde Jagd durch das East End, in deren Verlauf sie schließlich den Bahnhof erreicht hatten. Selbstkritisch gestand er sich ein, dass er es Gower äußerst leicht gemacht hatte, ihn an der Nase herumzuführen. Immer wieder hatte Gower es verstanden, zu erreichen, dass sie Wrexhams Fährte nicht vollständig verloren, und die Sache dennoch als echte Verfolgungsjagd darzustellen. Wann immer sie den Mann kurz aus den Augen verloren hatten, war es stets Gower gewesen, der die Spur wiedergefunden hatte. Er hatte Pitt mit dem Hinweis, wie nützlich es sein könne, Wrexham zu beschatten, um mehr zu erfahren, daran gehindert, ihn festzunehmen. Auch hatte Gower genug Geld in der Tasche

Und hatte nicht auch Gower gesagt, er habe Linsky und Meister gesehen – und Pitt hatte ihm geglaubt?

War Wrexham in den Plan eingeweiht gewesen, Pitt aus London wegzulocken? Hatte er genau gewusst, was er tat, und die Gründe dafür gekannt? Warum aber hatte er dann nicht auch West getötet? War seine Angst, waren seine Bedenken zu groß gewesen? Hatte man ihm nicht genug dafür geboten?

Ganz offensichtlich musste Pitt umgehend nach London zurück. Die Frage war nur, was er Gower sagen, welchen Grund er dafür angeben sollte. Gower würde wissen, dass keine Mitteilung aus Lisson Grove gekommen war, denn die hätte man ihnen ins Haus gebracht. Pitt konnte auch nicht so tun, als habe er sie am Postamt abgeholt, denn Gower brauchte lediglich dort nachzufragen, um festzustellen, dass das nicht der Wahrheit entsprach.

Die Sonne stand jetzt als leuchtender orangefarbener Halbkreis über dem lila flammenden Horizont. Die Schatten, die auf die Straße fielen, wurden allmählich dunkler.

Sollte Pitt versuchen, Gower zu entkommen, indem er einfach zum Hafen ging und dort die nächste Fähre nach Southampton nahm? Die kam aber möglicherweise erst am nächsten Morgen. Bis dahin würde Gower begreifen, was geschehen war, und irgendwann in der Nacht nach ihm suchen. Außerdem trug Pitt wegen des warmen Nachmittags nur ein leichtes Jackett; seine warmen Sachen waren in der Pension.