Der Gedanke, an Ort und Stelle den Kampf gegen Gower aufzunehmen, war abwegig. Sogar wenn es ihm gelang, ihn zu besiegen – und das war äußerst zweifelhaft, denn Gower war jünger und außerordentlich gestählt –, was würde er dann mit ihm tun? Er hatte keine Möglichkeit, ihn festzunehmen. Würde er ihn gefesselt und geknebelt im Zimmer liegenlassen
Aber sicherlich verfügte Gower am Ort über Helfer. Dieser Gedanke ernüchterte Pitt wie ein Guss kalten Wassers. Wie viele der Menschen in Frobishers Haus waren in den Plan eingeweiht? Die einzige Möglichkeit, die Pitt hatte, bestand darin, Gower zu täuschen, ihn in dem Glauben zu lassen, er hege keinerlei Verdacht. Das aber würde alles andere als einfach sein. Die geringste Änderung in seinem Verhalten würde ihn verraten. Eine leichte Befangenheit, ein Zögern, ein zu sorgfältig gewählter Ausdruck, und Gower würde merken, dass Pitt ihn und seine Machenschaften durchschaut hatte.
Wie nur konnte er begründen, dass sie nach London zurückkehren mussten? Welcher Vorwand würde Gower glaubhaft erscheinen?
Oder sollte er sagen, er werde allein zurückkehren und Gower solle am Ort bleiben, um weiterhin Frobisher und Wrexham zu beschatten, für den Fall, dass etwas an der Sache war? Für den Fall, dass Meister oder Linsky zurückkehrten? Oder einer der anderen, den Gower erkennen konnte? Dieser Einfall erleichterte ihn unaussprechlich. Es kam ihm vor, als befände er sich schon auf der Flucht in die Freiheit. Er würde allein und in Sicherheit sein, während Gower in Frankreich bliebe.
Im nächsten Augenblick verachtete er sich wegen seiner Feigheit. Als er in jungen Jahren angefangen hatte, auf den Straßen Londons Streife zu gehen, war er auf ein gewisses Maß an Gewalttätigkeit gefasst gewesen und damit auch tatsächlich hin und wieder in Berührung gekommen. Es hatte eine Reihe wilder Verfolgungsjagden gegeben, an deren Ende es oft zu körperlichen Auseinandersetzungen gekommen war. Doch nach seiner Beförderung zum Leiter der Wache in der Bow Street hatte er als Angehöriger der Kriminalpolizei in gehobener
All das hatte aber nichts mit körperlicher Gewalttätigkeit zu tun gehabt, und die geistige Auseinandersetzung hatte sein eigenes Leben nicht bedroht.
Als es vollends dunkel wurde, erhob sich eine frische Brise. Ihn fröstelte, und zugleich brach ihm der Schweiß aus. Er musste sich beherrschen. Gower würde es merken, wenn er nervös war; er würde sicherlich auf solche Anzeichen achten. Dann wäre es für ihn das Nächstliegende zu vermuten, dass Pitt ihn durchschaut hatte.
Er musste sich jetzt jedes Wort genau überlegen, das er sagen würde, durfte sich nicht den geringsten Fehler erlauben.
Gower war bereits zu Hause, als Pitt eintrat. Er saß in einem behaglichen Sessel, ein Glas Wein auf dem Tischchen neben sich, und las in einer französischen Zeitung. Trotzdem sah er sehr englisch aus, was wohl auch an seinem unübersehbaren Sonnenbrand lag. Bei Pitts Eintreten hob er den Blick, lächelte, als er dessen schmutzige Stiefel sah, und stand auf.
»Kann ich Ihnen ein Glas Wein anbieten?«, fragte er. »Ich nehme an, Sie haben Hunger.«
Sogleich überfielen Pitt Zweifel. War seine Annahme lachhaft, dieser Mann habe blitzschnell und brutal West getötet und sich dann mit Unschuldsmiene daran gemacht, gemeinsam mit Pitt Wrexham bis Southampton und über den Ärmelkanal bis hierher in die Bretagne zu verfolgen?
Er durfte nicht zögern. Gower erwartete eine Antwort auf seine Frage, und sie musste natürlich und unbefangen klingen.
»Ja«, sagte er mit schiefem Lächeln, während er sich in den anderen Sessel fallen ließ. Dabei merkte er erst richtig, wie erschöpft er war. »Eine so lange Strecke bin ich schon lange nicht mehr marschiert.«
»Sind wohl an die fünfzehn Kilometer?« Gower hob die Brauen. Er stellte Pitt den Wein hin. »Haben Sie überhaupt etwas zu Mittag gehabt?« Er nahm wieder Platz und sah neugierig zu Pitt her.
»Brot mit Käse und ein gutes Glas Wein«, gab Pitt zurück. »Ich bin zwar nicht sicher, ob Rotwein und Käse gut miteinander harmonieren, aber es hat gut geschmeckt, wenn es auch kein Stilton war«, fügte er rasch hinzu für den Fall, dass Gower annahm, er wisse nicht, dass ein Herr zum Portwein ein wenig Stilton zu nehmen pflegte. Sie saßen wie Freunde beim Wein zusammen und unterhielten sich über Fragen der Etikette, als habe es keinen Toten gegeben und als stünden sie beide auf derselben Seite. Er musste sorgfältig darauf achten, sich durch diese absurde Situation auf keinen Fall von der tödlichen Wirklichkeit ablenken zu lassen.
»Und war es der Mühe wert?«, erkundigte sich Gower. In seiner Stimme lag nicht der kleinste verräterische Hinweis, und seine sehnige Hand, die das Glas hielt, zitterte nicht im Geringsten.
»Durchaus«, sagte Pitt. »Der Mann hat meine Vermutung bestätigt. Er hält Frobisher für einen Maulhelden und Schaumschläger.
»Und Wrexham?«, fragte Gower.
Einen Augenblick lang trat Schweigen ein. Von draußen hörte man Hundegebell, irgendwo sang jemand, und Gelächter erscholl.
»Bei ihm scheint die Sache anders auszusehen«, gab Pitt zurück. »Das wissen wir ja aus leidvoller Erfahrung selbst. Allerdings habe ich keine Ahnung, was er hier treibt. Ich hatte angenommen, ihm sei unbekannt, dass wir hinter ihm her sind, aber da habe ich mich vielleicht getäuscht.« Die Schlussfolgerung, die sich daraus ergab, ließ er unausgesprochen.
»Wir haben uns vorgesehen«, sagte Gower und tat, als überlege er. »Aber warum hält er sich hier bei Frobisher auf, wenn er nichts anderes im Sinn hat, als uns zu entkommen? Er könnte doch nach Paris weiterfahren oder sonstwohin?« Er stellte sein Glas auf das Tischchen und sah Pitt an. »Günstigstenfalls ist er ein Revolutionär und schlimmstenfalls ein Anarchist, der jede Ordnung umstoßen und Chaos an ihre Stelle setzen will.« In seiner Stimme lag beißende Verachtung. Sofern die gespielt war, fand Pitt, gehörte der Mann unbedingt auf die Bühne.
Er überdachte seinen Plan erneut. »Vielleicht wartet er hier auf jemanden und fühlt sich so sicher, dass er gar nicht auf uns achtet«, gab er zu bedenken.
»Wie wäre es, wenn derjenige, der erwartet wird, so wichtig ist, dass Wrexham das Risiko eingehen muss?«, hielt Gower dagegen.
»Damit haben Sie wohl Recht.« Pitt setzte sich bequemer hin. »Aber das kann dauern. Möglicherweise würden wir es nicht einmal merken, wenn es so weit ist. Ich denke, dass wir noch viel mehr Informationen brauchen.«
»Etwa von der französischen Polizei?«, fragte Gower in zweifelndem Ton. Auch er veränderte seine Haltung, wirkte aber eher ein wenig angespannt, als wolle er jeden Augenblick aufstehen.
Pitt zwang sich, es ihm nicht gleichzutun. Er musste unbedingt den Eindruck völliger Gelöstheit erwecken.
»Die haben unter Umständen andere Interessen als wir«, fuhr Gower fort. »Trauen Sie denen überhaupt, Sir? Wollen Sie denen tatsächlich sagen, was wir über Wrexham wissen und warum wir hier sind?« Sein Ausdruck war besorgt, seine Stimme klang kritisch, so, als hindere ihn lediglich seine untergeordnete Stellung daran, sich deutlicher auszudrücken.
Pitt zwang sich zu einem Lächeln. »Natürlich nicht. Wir haben weder eine Vorstellung davon, was die Leute wissen, noch eine Möglichkeit, auf seinen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen, was sie uns vielleicht sagen. Außerdem decken sich unsere Interessen womöglich in der Tat nicht mit den ihren. Vor allem aber möchte ich nicht, dass sie wissen, wer wir sind – da bin ich mit Ihnen ganz und gar einig.«
Gower zwinkerte rasch. »Und was schlagen Sie vor, Sir?«
Das war die einzige Chance, die Pitt haben würde. Er wäre gern aufgestanden, um reagieren zu können, falls ihn Gower plötzlich angriff. Doch er zwang seine Muskeln, sich zu entspannen, und blieb scheinbar bequem sitzen. Er ließ sich ein wenig weiter nach vorn gleiten und streckte die Beine, als sei er müde – was ihm nach seinem langen Fußmarsch nicht schwerfiel. Gott sei Dank hatte er gute Stiefel, auch wenn sie jetzt staubig und abgestoßen waren.