»Ich denke, dass ich nach London fahre und mich erkundige, was es in Lisson Grove Neues gibt«, sagte er. »Unter Umständen haben die da inzwischen eine ganze Reihe von Informationen, die sie uns nicht weitergegeben haben. Sie halten hier die Stellung bis zu meiner Rückkehr und achten weiterhin auf jede Bewegung Frobishers und Wrexhams. Mir ist bewusst, dass diese Aufgabe für einen Einzelnen unmäßig schwierig ist, aber uns ist bisher noch nie aufgefallen, dass die Leute nach Einbruch der Dunkelheit etwas anderes getan hätten, als Gäste zu empfangen.« Er wollte noch etwas hinzufügen, die Sache weiter erklären, begriff aber rechtzeitig, dass er damit nur Verdacht erregen würde. Als Gowers Vorgesetzter hatte er es nicht nötig, sich zu rechtfertigen.
»Ja, Sir, wenn Sie das für das Beste halten. Wann werden Sie zurück sein? Soll ich Ihr Zimmer für Sie freihalten?«, erkundigte sich Gower.
»Ja – bitte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ich länger als zwei, höchstens drei Tage bleiben werde. Ich habe den Eindruck, dass wir im Augenblick im Dunkeln tappen.«
»In Ordnung, Sir. Wie wäre es jetzt mit Abendessen? Ich habe heute ein neues Gasthaus entdeckt. Da gibt es die beste Muschelsuppe, die Sie je gegessen haben.«
»Guter Gedanke.« Pitt stand ein wenig steif auf. »Ich nehme gleich morgen früh die erste Fähre.«
Der nächste Tag war diesig und deutlich kühler. Pitt hatte sich mit voller Absicht für die erste Fähre entschieden, um nicht gemeinsam mit Gower frühstücken zu müssen. Er fürchtete, in der scheinbar entspannten Atmosphäre einen Fehler zu begehen, der diesem sicher sofort auffallen würde. Ob Gower bereits etwas argwöhnte? War ihm bewusst, dass Pitt seine Tarnung durchschaut hatte? Während er durch die ihm inzwischen vertrauten Straßen dem Hafen entgegenstrebte, fiel es
Doch das wäre gar nicht nötig, denn zu seinen Verbündeten, Frobishers oder Wrexhams Leuten, konnte jeder Beliebige gehören. Wie wäre es beispielsweise mit dem Hafenarbeiter im Seemannspullover, der in einem Hauseingang die erste Zigarette des Tages rauchte, dem Mann, der auf einem Fahrrad über die Pflastersteine schaukelte, wenn nicht gar mit der jungen Frau mit dem Wäschekorb? Wieso nahm er an, dass Gower ihm selbst folgen würde? Wieso nahm er überhaupt an, dass er etwas gemerkt hatte? Dieser neue Gedanke vertrieb beinahe alle anderen Erwägungen. Wie ichbezogen war es von ihm, zu vermuten, dass Gower nichts Wichtigeres zu tun hatte, als hinter seine Gedanken zu kommen! Vielleicht ließen Pitt und was er wusste oder zu wissen glaubte, ihn ohnehin völlig kalt.
Während er den Schritt beschleunigte, kam er an einer Gruppe von Reisenden mit prall gefüllten Koffern und schweren Reisetaschen vorüber. Am Hafen sah er sich um, als suche er einen Bekannten, und war erleichtert, ausschließlich unbekannte Gesichter zu sehen. Er merkte, dass der Wind aufgefrischt hatte und den Geruch von Salz mit sich brachte.
Zweimal musste er sich in eine Schlange einreihen – vor dem Fahrkartenschalter und an der Landungsbrücke. Sobald er das leichte Schwanken des Decks unter seinen Füßen spürte, fühlte er sich in Sicherheit.
Pitt stand an der Reling und hielt den Blick auf die Landungsbrücke und den Kai gerichtet. Über ihm schossen kreischend die Möwen durch die Luft. Er hoffte, dass er aussah wie jemand, der voll angenehmer Erinnerungen einen letzten
Zweimal glaubte er, ihn entdeckt zu haben, doch beide Male war es ein Fremder. Es hatte einfach an den hellen Haaren gelegen oder an der Art, wie der Betreffende den Kopf hielt. Pitt schalt sich töricht wegen der Angst, die er empfand, während in Wahrheit womöglich keinerlei Gefahr bestand. Vielleicht reichte diese Angst so tief, weil ihm am Vortag auf dem Rückweg in die Stadt zum ersten Mal der Gedanke gekommen war, dass Gower der Mörder Wests war und es sich bei Wrexham lediglich um einen Mitwisser, wenn nicht gar um einen gänzlich Unschuldigen, handelte. Er konnte ohne weiteres jemand sein, der sich als Sozialist ausgab und sich ähnlich wie Frobisher als Fanatiker aufspielte. Was Pitt bestürzt hatte, war das Entsetzen, mit dem ihm aufgegangen war, wie blind und dumm er gewesen war, wie wenig er andere Möglichkeiten in Erwägung gezogen hatte. Er würde sich schämen, wenn er Narraway davon berichtete, aber ihm würde nichts anderes übrigbleiben. Um dies Eingeständnis würde er nicht herumkommen.
Endlich wurde der Anker gelichtet, und die Fähre lief aus. Pitt blieb an der Reling stehen und sah zu, wie die Türme und Mauern der Stadt kleiner wurden. Auf dem Wasser tanzte glitzernd das Sonnenlicht. An der Ausfahrt des Hafens schwappte und schlug das auflaufende Wasser gegen den Fuß der dortigen Befestigungsanlage. So früh am Vormittag sah man nur wenige Segelboote: Fischer, die in aller Herrgottsfrühe hinausgefahren waren, um ihre Hummerkörbe einzuholen.
Er versuchte, sich das Bild einzuprägen, um Charlotte berichten zu können, wie schön das alles war. Er würde ihr schildern, was er gesehen, gehört und geschmeckt hatte, seinen Eindruck, in frühere Zeiten zurückversetzt worden zu sein. Er nahm sich vor, eines Tages mit ihr dorthin zu fahren und mit ihr in einem der Gasthöfe zu essen, wo es so herrliche Muschelgerichte, Austern und Hummer gab. Charlotte kam so gut wie nie aus London heraus, von Auslandsreisen ganz zu schweigen. Bestimmt würde sie das freuen; es wäre einmal etwas anderes. So lebhaft stellte er sich vor, sie wiederzusehen, dass er den Duft ihres Haares zu riechen und den Klang ihrer Stimme zu hören glaubte. Er würde sich nicht lange bei dem aufhalten, was ihn nach Frankreich geführt hatte, sondern ihr nur die guten Dinge berichten.
Jemand stieß ihn an, und er reagierte nicht sogleich. Dann überlief ihn ein Schauder, als er merkte, wie unaufmerksam er gewesen war.
Der Mann entschuldigte sich.
Nur mit Mühe gelang es Pitt zu sprechen. Sein Mund war völlig ausgetrocknet. »Nicht weiter schlimm.«
Der Mann lächelte. »Es hat mich von den Beinen gehauen. Bin nicht an den Seegang gewöhnt.«
Pitt nickte, trat aber von der Reling zurück und suchte den Salon auf. Dort blieb er während der ganzen Überfahrt, trank Tee und frühstückte: frisches Brot, Käse und einige Scheiben Schinken. Er gab sich Mühe, den Eindruck zu erwecken, als fühle er sich wohl.
Als er mit dem kleinen Koffer, den er in Saint Malo gekauft hatte, in Southampton an Land ging, sah er aus wie ein beliebiger Reisender, der aus den Ferien zurückkehrte. Es war Mittag. Im Hafen wimmelte es von Menschen.
Er suchte unverzüglich den Bahnhof auf, um den ersten Zug nach London zu nehmen. Dort würde er als Erstes nach
Inzwischen fühlte er sich besser. Frankreich schien in weiter Ferne zu liegen, und er hatte auf der Fähre keine Spur von Gower gesehen. Seine Erklärung hatte ihm wohl eingeleuchtet.
Der Bahnhof war voller Menschen, die alle ziemlich schlecht gelaunt zu sein schienen. Den Grund dafür erfuhr er, als er seine Fahrkarte nach London löste.
»Tut mir leid, Sir«, sagte der Mann hinter dem Schalter. »Wir haben in Shoreham-by-Sea eine technische Störung. Sie müssen mit Verspätung rechnen.«
»Wie lang wird die sein?«
»Das kann ich nicht sagen, Sir. Vielleicht eine Stunde oder länger.«
»Aber der Zug fährt doch?«, fragte Pitt nach. Mit einem Mal konnte er es nicht abwarten, Southampton zu verlassen, als schwebe er nach wie vor in Gefahr.
»Ja, Sir. Wollen Sie jetzt die Fahrkarte oder nicht?«
»Ja. Es gibt ja wohl keine andere Möglichkeit, nach London zu kommen, oder?«
»Nein, Sir. Es sei denn, Sie wollen eine andere Strecke fahren. Manche tun das, aber es ist ein Umweg und kostet mehr. Ich denke, dass die Schwierigkeit bald behoben ist.«
»Danke. Geben Sie mir bitte eine Fahrkarte nach London. «
»Hin und zurück, Sir? Erste, zweite oder dritte Klasse?«