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»Nur Hinfahrt und bitte zweite Klasse.«

Er bezahlte und ging auf den Bahnsteig, der sich mit immer mehr Menschen füllte. Das Gedränge war so dicht, dass er nicht einmal auf und ab gehen konnte, um seine Anspannung abzubauen. Anderen schien es ähnlich zu gehen. Frauen versuchten quengelnde Kinder zu beruhigen, Geschäftsleute zogen immer wieder prüfend die Uhr aus der Westentasche. Pitt sah sich fortwährend um, aber es gab keinen Hinweis auf Gower, obwohl er nicht sicher war, dass er ihn in der immer mehr anwachsenden Menschenmenge erkennen würde.

Als es auch um zwei Uhr nach wie vor keinen Hinweis auf eine bevorstehende Abfahrt gab, kaufte er ein belegtes Brot und ein großes Glas Apfelwein. Um drei Uhr stieg er schließlich in einen Zug nach Worthing, in der Hoffnung, von dort auf einer anderen Strecke nach London zu kommen. Zumindest hatte er die Illusion, dass es voranging. Während er im letzten Waggon einen freien Platz suchte, hatte er wieder den Eindruck, entkommen zu sein.

Mit Glück fand er in dem recht vollen Waggon einen Sitzplatz. Alle Fahrgäste hatten schon ziemlich lange gewartet; sie waren müde, besorgt und freuten sich darauf, nach Hause zu kommen. Eine Frau hielt ein etwa zwei Jahre altes weinendes Mädchen tröstend in den Armen. Während sich die Kleine schniefend die Augen rieb, musste Pitt unwillkürlich an Jemima denken. Wie lange es zurücklag, dass sie in jenem Alter gewesen war! Pitt nahm an, dass die Frau Ferien gemacht hatte und jetzt nicht wusste, wie es weitergehen sollte. Aus Mitgefühl unterhielt er sich zwei Stationen lang mit ihr. Als die schaukelnden Bewegungen des Zuges die Kleine in den Schlaf gewiegt hatte, entspannte sich schließlich auch die Mutter.

Manche Fahrgäste stiegen schon in Bognor Regis aus und noch mehr in Angmering. Als der Zug in Worthing einlief,

»Tut mir leid«, sagte der Schaffner, schob die Mütze ein wenig hoch und kratzte sich am Kopf. »Weiter geht es nicht, solange das Gleis bei Shoreham nicht geräumt ist.«

Es gab einiges Murren unter den wenigen Fahrgästen, doch alle stiegen aus. Sie wanderten unruhig auf dem Bahnsteig auf und ab, gingen den Gepäckträgern und dem Schaffner mit Fragen auf die Nerven, die niemand beantworten konnte, oder suchten den Wartesaal auf, wo schon Fahrgäste aus den anderen Waggons saßen.

Pitt nahm eine Zeitung zur Hand, die jemand hatte liegen lassen, und überflog die Schlagzeilen. Nichts Besonderes lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, und jedes Mal, wenn jemand vorüberkam, hob er den Blick in der Hoffnung, man werde die bevorstehende Abfahrt des Zuges ankündigen.

Während sich der Nachmittag scheinbar endlos in die Länge zog, stand er ein oder zwei Mal auf und ging den ganzen Bahnsteig auf und ab. Er nahm sich zusammen, um den Schaffner nicht mit Fragen zu behelligen, da ihm klar war, dass der Arme die Sache vermutlich ebenso unerfreulich fand wie alle anderen Wartenden und ihnen die erhoffte Mitteilung nur allzu gern gemacht hätte.

Als sich die Sonne dem Horizont entgegenneigte, konnten sie endlich in einen bereitgestellten Zug steigen, der langsam aus dem Bahnhof dampfte. Es war erstaunlich, wie erleichtert alle waren. Dabei hatte niemand von ihnen Entbehrungen leiden müssen oder in Gefahr geschwebt. Dennoch lächelten alle, redeten miteinander, und einige lachten sogar glücklich.

Der nächste Bahnhof war Shoreham-by-Sea, der Ort, an dem das Gleis unterbrochen gewesen war, dann kam Hove. Inzwischen war es bald dunkel, und das letzte Sonnenlicht warf scharfe Schatten. In Pitts Augen war diese Abendstunde

Da er sich mit einem Mal durch das Abteil beengt fühlte, stand er auf, ging ans Ende des Waggons und trat auf die kleine Plattform dort hinaus. Auf diesen Plattformen rauchten gewöhnlich Männer ihre Zigarren, um Mitreisende nicht zu belästigen. Es war schön, dort zu stehen, den Fahrtwind zu spüren und den Geruch frisch gepflügter Erde und feuchter Wälder in sich aufzunehmen. Nicht viele Züge hatten solche Plattformen. Irgendwo hatte er gehört, dass diese Einrichtung aus Amerika stammte. Sie gefiel ihm sehr.

Auch wenn es draußen recht kühl war, empfand er die Atmosphäre als angenehm und blieb dort stehen, während es rasch immer dunkler wurde. Dicke Wolken zogen von Norden heran. Wahrscheinlich würde es irgendwann in der Nacht regnen.

Er überlegte, was er Narraway über die Verfolgung Wrexhams sagen wollte, die sie nach Frankreich geführt hatte und die er inzwischen als vollständigen Fehlschlag einschätzte. Auch musste er sich darüber klarwerden, wie er ihm die Schlussfolgerungen erklären wollte, zu denen er in Bezug auf Gower gelangt war, und seine Blindheit, die ihn daran gehindert hatte, von Anfang an die wirklichen Zusammenhänge zu erkennen. Als Nächstes malte er sich voll Vorfreude das Wiedersehen mit Charlotte aus. Wie schön es sein würde, wieder zu Hause zu sein, wo er nur den Blick zu heben brauchte, um zu

Inzwischen war es praktisch Nacht; wegen der Wolken war die Dunkelheit rascher als gewöhnlich hereingebrochen.

Mit einem Mal spürte er, dass jemand hinter ihm stand. Wegen des Räderratterns hatte er nicht gehört, wie sich die Tür zum Waggon öffnete. Er wandte sich halb um, doch es war zu spät. Jemand umklammerte von hinten seinen rechten Arm mit eisernem Griff und drängte ihn so fest gegen das Geländer der Plattform, dass sein eigener Körper seinen linken Arm einquetschte.

Er versuchte, dem Mann kräftig auf den Fuß zu treten, um ihn durch den Schmerz dazu zu bewegen, seinen Griff zu lockern. Zwar merkte er, dass der Mann zusammenzuckte, dann aber schob dieser ihn immer weiter nach vorn, mit dem Oberkörper über das Geländer. So scharf schnitt Pitt das Metall in den linken Arm, dass er vor Schmerz nach Luft rang. Inzwischen hatte ihn der Angreifer so weit vornüber gedrückt, dass sich sein Kopf dem vorbeifliegenden Boden immer mehr näherte. Der kalte Wind fuhr ihm durch das Gesicht, und Rußflocken von der Lokomotive bissen in seine Haut. Es würde nicht mehr lange dauern, bis er das Gleichgewicht verlor, von der Plattform stürzte und auf den Bahndamm prallte. Das würde bei der hohen Geschwindigkeit des Zuges mit großer Wahrscheinlichkeit seinen Tod bedeuten. Der ausgesprochen kräftige und massige Mann presste ihm geradezu alle Luft aus dem Brustkorb, und Pitt hatte nicht die geringste Möglichkeit, sich zu wehren. Er konnte nicht mehr lange Widerstand leisten, in wenigen Sekunden würde es vorüber sein.

Da hörte er, wie eine Tür zugeschlagen wurde, und ein wilder Schrei ertönte. Der Druck gegen seinen Rücken wurde noch stärker und presste ihm die letzte Luft aus der Lunge. Dann löste sich sein Angreifer von ihm, und Pitt, der sich keuchend am Geländer festhielt, drehte sich um. Der Angreifer kämpfte jetzt gegen einen anderen Mann. In der Dunkelheit vermochte Pitt lediglich schattenhafte Umrisse zu erkennen, sah aber, dass der Mann, der ihn gerettet hatte, wohlbeleibt und stämmig war und dass der Hut des Mannes davonflog. In diesem Kampf zog er unübersehbar den Kürzeren und wurde immer mehr zum gegenüberliegenden Geländer der Plattform gedrängt. Einen kurzen Augenblick lang fiel ein Lichtschein aus der Tür, und Pitt sah, dass sich Entsetzen auf dem vor Wut verzerrten Gesicht des Mannes auszubreiten begann, da er merkte, dass er nicht gewinnen konnte. Pitt richtete sich auf, stürmte mit bloßen Fäusten auf seinen Angreifer los und rammte sie ihm, so fest er konnte, in die kurzen Rippen, in der Hoffnung, ihm auf diese Weise die Luft zu nehmen. Er hörte ihn aufstöhnen und drang weiter auf ihn ein, aber nur einen Schritt weit. Der Dicke warf sich beiseite und auf ein Knie. Auf diese Weise konnte er verhindern, dass er das Gleichgewicht verlor und über das Geländer stürzte.

Pitt wandte sich weiter gegen seinen Angreifer, doch der musste damit gerechnet haben. Er ließ sich ebenfalls auf die Knie fallen, so dass ihn Pitts Schlag lediglich an der Schulter traf und diese nach hinten riss, und dann griff er Pitt mit gesenktem Kopf an und traf ihn so hart in die Magengrube, dass Pitt zu Boden stürzte. Die Waggontür schlug auf und zu.