Er ging an Bord der kleinen Dampffähre Laura. Dort blieb er an der Reling stehen, ohne die Laufplanke aus den Augen zu lassen. Einerseits wollte er sehen, ob auch Gower an Bord kam, vor allem aber sicher sein, dass Wrexham nicht wieder an Land ging. Falls ihm die Anwesenheit seiner Verfolger aufgefallen war, würde es ihm ein Leichtes sein, kurz vor dem Ablegen von Bord zu gehen und mit dem nächsten Zug nach London zurückzukehren, während Pitt und Gower gleichsam auf der Fähre gefangen waren.
An die Reling gelehnt, genoss Pitt den kräftigen salzigen Wind, der ihm über das Gesicht strich. Als er Schritte hinter
Gower stand einen Meter von ihm entfernt und fragte lächelnd: »Haben Sie etwa befürchtet, ich wollte Sie über Bord stoßen?«
Pitt schluckte seinen aufkeimenden Zorn herunter. »So nah am Ufer eigentlich nicht«, gab er zurück. »Wenn wir in der Mitte des Kanals sind, werde ich mich mehr vorsehen.«
Gower lachte. »Klingt vernünftig, Sir. Wenn wir ihm weiter folgen, bekommen wir sicher eine klare Vorstellung davon, mit wem er drüben auf dem Kontinent Kontakt hat. Vielleicht erfahren wir sogar, was die Leute im Schilde führen. «
Auch wenn Pitt das bezweifelte, blieb ihnen einstweilen nichts anderes übrig, als abzuwarten. »Möglich. Aber man darf uns auf keinen Fall zusammen sehen. Wir haben großes Glück gehabt, dass er uns bisher nicht erkannt hat. Wahrscheinlich wären wir ihm längst aufgefallen, wenn er nicht so unglaublich hochnäsig wäre.«
Mit einem Schlag war Gower vollkommen ernst und sagte mit finsterem Gesicht: »Vermutlich ist für ihn, was auch immer er beabsichtigt, so wichtig, dass er an nichts anderes denken kann. Er hat wohl angenommen, dass er uns in Ropemaker’s Field abgeschüttelt hat. Immerhin waren wir im Zug in einem anderen Waggon als er.«
»Schon. Aber er muss uns gesehen haben, als wir ihn verfolgt haben. Immerhin ist er gerannt«, gab Pitt zu bedenken. »Wenn doch zumindest einer von uns beiden eine Jacke zum Wechseln da hätte. Aber wenn wir sie auszögen, würden wir jetzt im April auf dem Wasser noch mehr auffallen.« Er sah nachdenklich zu Gower hin. Ihre Kleidergröße war annähernd gleich. Wenn sie ihre Jacken tauschten, würde das ihr Aussehen zumindest ein wenig verändern.
Als hätte dieser Pitts Gedanken gelesen, zog er sich die Jacke aus, hielt sie ihm hin und nahm die Pitts entgegen. Als Pitt sie anzog, merkte er, dass Gowers Jacke ein wenig spannte, während diesem die seine ein wenig lose um die Schultern hing.
Mit schiefem Lächeln räumte Gower Pitts Taschen aus und gab ihm sein Notizbuch, Taschentuch, Bleistift, Kleingeld, die Brieftasche sowie allerlei Krimskrams.
Pitt hielt es mit Gowers Habseligkeiten ebenso.
Spöttisch salutierend, sagte Gower: » Wir sehen uns in Saint Malo«, machte auf dem Absatz kehrt und ging, ohne einen Blick zurück, mit leicht schwankenden Schritten davon. Nach einer Weile blieb er stehen, drehte sich noch einmal um und sagte lächelnd: »Ich an Ihrer Stelle würde mich von der Reling fernhalten, Sir.«
Pitt hob grüßend die Hand und sah weiter aufmerksam zur Laufplanke hin.
So kurz nach der Tagundnachtgleiche wurde es noch ziemlich früh dunkel. Kaum hatte die Fähre bei Sonnenuntergang abgelegt, fühlte sich der Wind auf dem Wasser empfindlich kalt an. Es hatte keinen Sinn, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, wo Wrexham sein mochte, oder ihn gar überwachen zu wollen. Falls er sich auf der Fähre mit jemandem traf, würden sie es erst merken, wenn sie ihn ganz aus der Nähe sahen, und selbst dann konnte es sich ohne weiteres um ein beiläufiges Gespräch zwischen Zufallsbekannten handeln. Es dürfte am besten sein, sich eine Sitzgelegenheit zu suchen und ein wenig zu schlafen. Immerhin hatten sie einen langen und anstrengenden Tag hinter sich.
Während Pitt langsam eindämmerte, kam ihm voll Bedauern zu Bewusstsein, dass er nicht einmal die Möglichkeit gehabt hatte, seine Frau Charlotte zu informieren, so dass diese nicht wusste, dass er an jenem und möglicherweise auch
Nun würde er ihn von Saint Malo aus in einem Telegramm um Geld bitten und ihm zumindest so viel mitteilen müssen, dass er die Situation in etwa einschätzen konnte. Zweifellos hatte man die Leiche des armen West inzwischen gefunden, aber vermutlich würde die Polizei keinen Grund sehen, dem Sicherheitsdienst davon Mitteilung zu machen. Andererseits war Pitt überzeugt, dass Narraway im Laufe der Zeit von selbst hinter die Zusammenhänge kommen würde, denn er schien überall Zuträger zu haben. Ob er auch daran denken würde, Charlotte zu informieren?
Jetzt bedauerte Pitt, dass er nicht dafür gesorgt hatte, sie rechtzeitig in Kenntnis zu setzen. Zumindest hätte er von Southampton aus anrufen können. Dazu hätte er allerdings die Fähre noch einmal verlassen müssen, was mit der Gefahr verbunden gewesen wäre, Wrexhams Fährte zu verlieren.
Er wagte nicht, sich offen auf dem Schiff zu zeigen. Er fragte sich, wer auf Gower warten und sich Sorgen um ihn machen würde. Ihm kam der überraschende Gedanke, dass er nicht einmal wusste, ob der Mann verheiratet war oder noch bei seinen Eltern lebte.
Bevor er endgültig einschlief, versuchte er sich mit dem Gedanken zu beruhigen, dass er im Dienst auch schon früher
Mit einem Mal fuhr er hoch und setzte sich aufrecht hin, weil ihm das Bild vor Augen getreten war, wie West mit zur Seite hängendem Kopf dagelegen hatte, während das Blut auf die Steine des Ziegeleihofs gelaufen war, so dass sein Geruch die Luft erfüllte.
»Entschuldigung«, sagte der Steward mechanisch, während er dem Mann neben Pitt ein Glas Bier gab. »Darf ich Ihnen etwas bringen? Ein belegtes Brot?«
Pitt, der seit zwölf Stunden nichts gegessen hatte, überfiel mit einem Mal das Bewusstsein entsetzlichen Hungers. Kein Wunder, dass er nicht schlafen konnte.
»Ja, gern, danke«, sagte er. »Bringen Sie mir doch bitte zwei und dazu ein Glas Apfelwein.«
»Gern. Mit Roastbeef, Sir? Wäre Ihnen das recht?«
»Ja, das wäre mir recht. Um wie viel Uhr legen wir in Saint Malo an?«
»Gegen fünf, Sir. Aber die Passagiere dürfen bis sieben Uhr an Bord bleiben.«
»Vielen Dank.« Innerlich stöhnte Pitt auf. Das bedeutete, dass er und Gower schon ab fünf Uhr wach sein und die Augen offenhalten mussten, damit Wrexham ihnen nicht entkam. Immerhin bestand die Möglichkeit, dass er sich entschloss, die Fähre gleich nach der Ankunft zu verlassen, um den nächsten Zug nach Paris zu nehmen. Wenn ihm das gelang, wäre das eine Katastrophe, und um sie zu verhindern, würden sie die ganze Nacht nicht richtig schlafen können, um keinesfalls den Zeitpunkt der Ankunft zu verpassen. Da Pitt auf eine längere Abwesenheit von zu Hause nicht eingestellt gewesen war, hatte er selbstverständlich auch keinen Wecker bei sich.
»Bringen Sie mir besser gleich zwei Gläser Apfelwein«, sagte er mit schiefem Lächeln. Ob Gower dasselbe bestellen würde? Er hatte keine Vorstellung davon, wo sich sein Mitarbeiter befand, und wollte auch niemandes Aufmerksamkeit auf sich lenken, indem er sich nach ihm umsah. Vielleicht später. Wrexham konnte mit Sicherheit so tief und so lange schlafen, wie er wollte. Einen Menschen wie ihn quälten bestimmt keine durch ein schlechtes Gewissen verursachten Alpträume.
Pitt schlief mit Unterbrechungen. Voll Unruhe sah er Gower über das Deck auf sich zukommen, als sich die Fähre langsam in den Hafen von Saint Malo schob. Zwar war es noch dunkel, doch dank des sternklaren Himmels konnte man den Umriss der mittelalterlichen Befestigungsanlagen erkennen. Die Mauer war sicher mindestens fünfzehn, wenn nicht achtzehn Meter hoch, und in Abständen erhoben sich hier und da gewaltige Türme, die einst wohl Bogenschützen verteidigt hatten. Vielleicht hatten auch Männer in Rüstungen von dem einen oder anderen dieser Türme Kessel voll siedendem Öl über jeden ausgegossen, der den tapferen oder törichten Versuch unternommen hatte, die Mauern mit Hilfe von Sturmleitern zu erklimmen. Pitt kam sich vor wie bei einer Zeitreise in die Vergangenheit.