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»Was wollen Sie hier?«, fragte er. »Sie sind Engländerin, das höre ich an Ihrer Stimme. Versuchen Sie also gar nicht, mir Mitleid vorzugaukeln«, sagte er so scharf wie verachtungsvoll.

Sie hielt ebenso hart dagegen. »Und Sie meinen also, dass die Iren als einziges Volk auf der Welt Opfer sind?«, fragte sie. »Auch mein Mann hat gelitten. Vielleicht gäbe es mir eine Möglichkeit, etwas zu unternehmen, wenn ich die Wahrheit wüsste.«

»Was könnte das schon sein?«, fragte er in schneidendem Ton.

Ihr war klar, dass das, was sie ihm weismachen wollte, unbedingt glaubwürdig klingen musste. Das Unrecht, das sie schildern wollte, musste so schreiend sein, dass er in ihr ein ebensolches Opfer sah, wie er es war. Innerlich tat sie Narraway Abbitte. »Aus dem Sicherheitsdienst ist Narraway bereits entlassen«, sagte sie. »Und zwar wegen des für Mulhare bestimmten Geldes. Aber abgesehen von seiner Stellung als Leiter dieser Abteilung hat er alles, was man für ein angenehmes

Er zögerte einen Augenblick, dann suchte er, als ob er sich ergeben in etwas schicke, in seiner Tasche nach dem Schlüssel, steckte ihn unsicher ins Schloss, öffnete und hielt ihr die Haustür auf.

Ein großer Hund – wohl ein irischer Wolfshund – begrüßte seinen Herrn schwanzwedelnd nach einem flüchtigen Blick auf Charlotte. Er drängte sich dicht an ihn und verlangte nach seiner Aufmerksamkeit.

Mit leisen Worten tätschelte O’Neil dem Tier den Kopf und ging dann ins Wohnzimmer, um Licht zu machen, wobei ihm der Hund auf dem Fuß folgte. Im Schein der Gasflammen sah Charlotte einen sauberen behaglichen Raum, dessen großes Fenster auf den Vorgarten und die Straße ging. O’Neil schloss die Vorhänge, wohl eher, damit niemand hereinsehen konnte, als um die Abendkühle draußen zu halten, und forderte Charlotte auf, Platz zu nehmen.

Sie dankte ihm und wartete, bis er sich gefasst hatte, bevor sie ihm ihre Fragen stellte. Ihr war bewusst, dass ihn eine einzige ungeschickte Bemerkung oder falsche Reaktion gegen sie aufbringen konnte und sie keine Gelegenheit für einen zweiten Versuch bekommen würde.

»Die Sache liegt über zwanzig Jahre zurück«, sagte er und sah sie mit ernster Miene an. Er saß ihr gegenüber, der Hund lag ihm zu Füßen am Boden. Im Schein der Gaslampen konnte sie deutlich sehen, dass sich O’Neil bemühte, seine Gefühle zu beherrschen, die sicherlich durch die unvermittelte Begegnung mit Narraway wieder an die Oberfläche gespült worden waren. Seine Augen waren rot gerändert, sein Gesicht verhärmt. Die Haare standen ihm wirr um den Kopf, als sei er

»Ich weiß, Mr O’Neil«, sagte sie leise. Es gab keinen Grund, in diesem stillen Haus die Stimme zu heben, im Gegenteil verlangte die Tragödie, um die es hier ging, eine gewisse Ehrfurcht. »Haben Sie den Eindruck, dass die Zeit Wunden heilt? Ich würde das gern denken, sehe aber keinen Hinweis darauf.« Sie stand im Begriff, für sich selbst eine völlig neue Situation zu erfinden, wobei ihr zugleich schmerzlich bewusst war, dass Pitts Schicksal, das sie da in ihrer Vorstellung heraufbeschwor, Wirklichkeit werden konnte, falls es Narraway nicht gelang, seine Position im Sicherheitsdienst zurückzuerobern, und der Mann, der ihm diese Schmach bereitet hatte, ihn endgültig verdrängte – wer auch immer das sein mochte.

Sie setzte sich ein wenig bequemer hin und wartete auf seine Antwort.

»Ob die Zeit Wunden heilt?«, fragte er nachdenklich. »Nein. Vielleicht lässt sie etwas darüber wachsen, was die Wunden verschließt, aber darunter bluten sie auf alle Zeiten weiter.« Er sah sie fragend an. »Was hat er Ihnen angetan?«

Sie sprang in die Zukunft, auf die sich ihr Blick sorgenvoll richtete, und malte sich das Schlimmste aus.

»Auch mein Mann war im Sicherheitsdienst tätig«, erklärte sie. »Mit Irland hatte er nie etwas zu tun, sondern ausschließlich mit dem Kampf gegen Anarchisten in England, Bombenwerfer, die harmlose Frauen und Kinder umbrachten, alte Leute, meistens Arme.«

O’Neil zuckte zusammen, unterbrach sie aber nicht.

»Narraway hat ihm einen gefährlichen Auftrag gegeben, und als die Sache bedenklich wurde und mein Mann weit von zu Hause entfernt war, hat er erkannt, dass er die Situation falsch eingeschätzt hatte, und die Schuld an diesem Fehler,

»Und inwiefern könnte Ihnen meine Geschichte helfen?«, fragte O’Neil.

»Selbstverständlich streitet Narraway die Sache von A bis Z ab«, sagte sie. »Aber da er Sie ebenfalls verraten hat, bekommt die Sache ein anderes Gesicht. Sagen Sie mir bitte, was geschehen ist?«

»Er ist vor zwanzig Jahren hier aufgetaucht«, begann er langsam, »und hat uns Mitgefühl vorgegaukelt. Damit ist es ihm gelungen, so manchen zu täuschen. Er hat es ausgenutzt, dass er wie ein Ire aussieht, unsere Kultur, unsere Träume und unsere Geschichte kennt. Doch nicht alle von uns haben sich davon hinters Licht führen lassen. Man wird als Ire geboren oder man ist keiner. Aber wir haben so getan, als spielten wir mit – mein Bruder Sean, seine Frau Kate und ich.« Er hielt inne. Seine Augen waren verhangen, als sehe er aus diesem stillen Zimmer im Jahre 1895 etwas, was in weiter Ferne lag. Für ihn war die Vergangenheit ebenso gegenwärtig wie die Gesichter der Toten und die unverheilten Wunden.

Da sie nicht recht wusste, ob sie etwas Bestätigendes sagen sollte oder ob ihn das eher ablenken würde, schwieg sie.

»Wir haben durchschaut, wes Geistes Kind er war«, fuhr O’Neil fort. »Damals planten wir einen weitreichenden Aufstand und wollten ihn benutzen, indem wir ihm falsche Informationen zuspielten und auf diese Weise den Spieß umdrehten. Wir hatten allerlei Träume. Sean war der Anführer, aber Kate war diejenige, die uns alle mit ihrer Leidenschaft befeuert hat. Sie war schön wie das Sonnenlicht, das auf dem Herbstlaub tanzt, schön wie der Wind und der Schatten. Es war die Art von Schönheit, die man nicht halten kann. Sie war so lebendig wie keine andere Frau jemals.« Erneut hielt er inne, tief in seine Erinnerungen versunken. Der Schmerz, den er empfand, stand ihm unübersehbar ins Gesicht geschrieben.

»Sie haben sie geliebt«, sagte sie mit freundlicher Stimme.

»Wie alle anderen Männer auch«, bestätigte er und sah ihr kurz in die Augen, als sei ihm ihre Anwesenheit gerade erst wieder eingefallen. »Sie erinnern mich ein bisschen an sie. Ihre Haare hatten etwa die gleiche Farbe wie Ihre. Aber Sie sind natürlicher, wie die Erde. Unerschütterlich.«

Charlotte war nicht sicher, ob sie sich gekränkt fühlen sollte. Ohnehin war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür, aber sie würde später darüber nachdenken.

»Sprechen Sie weiter«, ermunterte sie ihn. Bisher hatte er ihr nichts gesagt, womit sie etwas anfangen konnte, außer dass er in die Frau seines Bruders verliebt gewesen war. War das der wahre Grund für seinen Hass auf Narraway?

Als hätte er ihren Gedanken gelesen, fuhr er fort: »Natürlich hat auch Narraway gemerkt, wie lebendig sie war. Wie wir alle war er von ihr fasziniert, und wir haben beschlossen, uns das zunutze zu machen. Wir hatten ihm weiß Gott so gut wie nichts entgegenzusetzen. Er war gerissen. Viele Iren halten die Engländer für dumm, und manche sind es sicher auch, aber von denen war Narraway keiner, der bestimmt nicht.«

»Sie haben sich also entschieden, sich seine Gefühle für Kate zunutze zu machen?«

»Ja. Warum auch nicht?«, fragte er und verteidigte mit vor Zorn sprühenden Augen die vor so vielen Jahren getroffene Entscheidung. »Wir haben für unser Land gekämpft, für unser Recht, uns selbst zu regieren. Und Kate war einverstanden. Sie hätte für Irland alles getan.« Seine Stimme versagte einen Augenblick, so dass er nicht weitersprechen konnte.

Sie wartete. Von draußen war nicht das leiseste Geräusch zu hören, weder Wind noch Regen, keine Schritte, kein Hufgeklapper auf der Straße. Selbst der Hund zu Cormacs Füßen rührte sich nicht. Das Haus hätte ebenso gut weit draußen auf dem Lande stehen können, viele Kilometer vom nächsten Nachbarn entfernt. Die Gegenwart hatte sich vollständig aufgelöst und war verschwunden.