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Charlotte versuchte sich die Situation vorzustellen, den Kummer, den Preis, den so viele Menschen dafür hatten zahlen müssen.

»Wer hat sie umgebracht?«, fragte sie. Sie empfand einen Verlust, als habe sie Kate persönlich gekannt und nicht nur als Namen und in ihrer Vorstellung.

»Sean«, gab er zurück. »Ich weiß nicht, ob er es getan hat, weil sie Irland verraten hat, wie er das sah, oder weil sie ihn betrogen hat.«

»Mit dir?«

Narraway wurde rot, wandte den Blick aber nicht ab. »Ja.«

»Weißt du genau, dass er es war? Gibt es daran keinerlei Zweifel?«

»Ich weiß es ganz genau«, sagte er mit halberstickter Stimme. »Ich habe ihre Leiche gefunden. Ich bin überzeugt, dass er das wollte.«

Sie konnte sich jetzt kein Mitleid mit ihm leisten. »Und wieso bist du so sicher, dass er der Täter war?« Sie musste Gewissheit haben, damit sie den Zweifel für immer ausräumen konnte. Falls Narraway selbst Kate getötet hatte, mochte das im Licht einer verdrehten politischen Logik gleichsam seine Pflicht gewesen sein und dazu gedient haben, größeres Blutvergießen zu verhindern. Während sie ihn ansah, verstand sie mit einem Mal deutlicher, welches Gewicht auf ihm lastete, und sie empfand Trauer darüber, was ihn das gekostet hatte.

»Wieso glaubst du so sicher zu wissen, dass Sean sie getötet hat?«, wiederholte sie ihre Frage.

Er sah sie unverwandt an. »In Wirklichkeit willst du wissen, ob ich beweisen kann, dass ich es nicht selbst war.«

Sie spürte die Schamröte auf ihrem Gesicht. Auf keinen Fall wollte sie ihn belügen. »Ja.«

Weder machte er ihr für diesen Gedanken Vorhaltungen, noch schob er die Frage einfach beiseite.

»Sie war schon kalt, als ich sie gefunden habe«, gab er zur Antwort. »Er hat versucht, mir die Schuld an ihrem Tod zu geben. Die Polizei hätte sich dieser Theorie nur allzu gern angeschlossen, aber zur Zeit ihrer Ermordung war ich zusammen mit dem Vizekönig in dessen Residenz im Phoenix Park.

»Doch«, stimmte sie zu und spürte, wie eine Last von ihr wich. Seelenschmerz war eine Sache, aber wenn keine Schuld dazukam, handelte es sich um eine Wunde, die wieder heilen würde. »Es … es tut mir leid, dass ich das fragen musste. Vielleicht hätte ich wissen müssen, dass du das nie getan hättest. «

»Es wäre mir lieb, wenn du gut von mir dächtest, Charlotte«, sagte er ruhig. »Aber ebenso sehr liegt mir daran, dass du mich als wirklichen Menschen ansiehst, der zum Guten wie zum Schlechten gleichermaßen fähig ist, der Mitleid und auch Scham empfinden kann …«

»Viktor … bitte …«

Er wandte sich langsam ab und sah ins Kaminfeuer. »Entschuldigung. Es wird nicht wieder vorkommen.«

Leise verließ sie den Raum und ging nach oben in ihr Zimmer. Sie musste allein sein, und was auch immer sie oder er sagen konnte, es würde die Sache nur verschlimmern.

Am nächsten Morgen trafen sie einander beim Frühstück. Nach einer schlechten Nacht hatte Charlotte leichte Kopfschmerzen; er war zwar müde, barst aber so vor Tatendrang, dass man die Ereignisse des Vortages für einen bösen Traum hätte halten können, für etwas, was nie geschehen war.

Während Charlotte Toast mit Orangenmarmelade bestrich, kam Mrs Hogan mit einem Brief für Narraway herein, den ein Bote abgegeben hatte. Narraway dankte ihr und öffnete den Brief.

Charlotte sah ihn aufmerksam an, konnte aber auf seinem Gesicht nichts anderes als einen Ausdruck von Überraschung sehen. Als er den Blick hob, merkte er, dass sie ihn erwartungsvoll ansah.

»Von Cormac. Ich soll ihn gegen Mittag aufsuchen. Er will mir sagen, was geschehen ist, und mir Beweise liefern.« Sie war verwirrt, dachte an den Hass des Mannes, den Schmerz, der ebenso stark zu sein schien, wie er wohl an jenem Tag in der fernen Vergangenheit gewesen war. Sie beugte sich vor. »Du solltest besser nicht hingehen, nicht wahr?«

Er legte den Brief auf den Tisch. »Ich bin gekommen, um die Wahrheit zu erfahren, Charlotte. Vielleicht höre ich sie aus seinem eigenen Munde, selbst wenn das nicht seine Absicht sein sollte. Ich muss unbedingt hin.«

»Aber er hasst dich nach wie vor aus tiefster Seele«, gab sie zu bedenken.

»Das ist mir bewusst«, versicherte er ihr, berührte mit seiner sehnigen Hand flüchtig ihren Arm und zog sie gleich wieder zurück. »Aber ich kann es mir nicht leisten, diese Gelegenheit ungenutzt vorübergehen zu lassen. Auch ich habe nichts zu verlieren. Falls Cormac hinter dem Verrat an Mulhare steckt, muss ich wissen, wie er das angestellt hat, und eine Möglichkeit finden, es Croxdale zu beweisen.« Sein Gesicht spannte sich erneut an. »Vor allem aber muss ich dahinterkommen,

Wortlos nickte sie, fest entschlossen, ihm zu folgen und ihn nicht aus den Augen zu lassen.

Er verließ das Haus mit gemächlichem Schritt, so, als wolle er sich nur ein wenig die Beine vertreten. Doch als sie, in ein Umschlagtuch gehüllt, aus der Haustür kam, sah sie, wie er dem Ende der Straße so eilig entgegenstrebte, dass ihr kaum Zeit blieb, die Tür hinter sich zu schließen. Ein kleines Stück musste sie sogar im Laufschritt zurücklegen, um den Abstand nicht zu groß werden zu lassen. Sie hatte ihr Ridikül mitgenommen, mit genug Geld darin, um bei Bedarf auch eine lange Droschkenfahrt bezahlen zu können.

Er bog um die Ecke in die Hauptstraße. Wenn sie ihn nicht aus den Augen verlieren wollte, musste sie den Schritt beschleunigen. Ganz wie sie vermutet hatte, trat er auf die erste der wartenden Droschken zu und stieg ein, nachdem er einige Worte mit dem Kutscher gewechselt hatte.

Rasch drehte sie sich um und tat so, als musterte sie die Auslage eines Geschäfts. Sobald die Droschke vorübergerollt war, hielt sie Ausschau nach der nächsten und nannte dem Kutscher Cormac O’Neils Adresse, wobei sie ihn zugleich aufforderte, so schnell wie möglich zu fahren.

»Sie bekommen einen Shilling zusätzlich, wenn es Ihnen gelingt, Ihren Kollegen einzuholen, der vor einer Weile hier abgefahren ist«, versprach sie.

Sie beugte sich vor und spähte angespannt hinaus, während die Droschke über das Pflaster rumpelte. Nachdem eine Straßenecke umrundet war, trieb der Kutscher die Pferde erneut zu einer schnelleren Gangart an. Sie hatte nicht die geringste Vorstellung davon, wo sie sich befanden, und obwohl die Fahrt kaum länger als eine Viertelstunde dauerte, kam sie ihr

Als sie ausgestiegen war, dauerte es einen Moment, bis sie wieder fest auf den Beinen stand. Sie dankte dem Kutscher, gab ihm mehr, als er verlangt hatte, und legte den versprochenen Shilling noch dazu.

Dann strebte sie erneut über den schmalen Weg, den sie am Vorabend im Dunkeln gegangen war, auf das Haus zu. Jetzt, in der Helligkeit des Tages, schien er ihr länger zu sein, kamen ihr die Büsche zu beiden Seiten beengender vor. Vielleicht lag das daran, dass die Kronen der Bäume über ihr das Sonnenlicht nicht durchließen.

Sie hatte die Haustür noch nicht ganz erreicht, als sie ein wütendes Kläffen hörte. Konnte das derselbe Hund sein, der am Vorabend so friedlich mit dem Kopf auf den Pfoten zu O’Neils Füßen gelegen und sie so gut wie gar nicht zur Kenntnis genommen hatte? Es überraschte sie, dass sich Cormac nicht um das Bellen zu kümmern schien. Er konnte es unmöglich nicht gehört haben.

Die Haustür gab schon bei einer leichten Berührung ihrer Finger nach und öffnete sich.

Narraway stand in der Diele und fuhr herum, als von draußen Licht hereinfiel. Einen Augenblick lang war er verblüfft, fasste sich aber sogleich wieder.