»Ich hätte es mir denken müssen«, sagte er mit finsterer Miene. »Warte hier.«
Inzwischen hatte sich das wütende Gebell des Hundes noch gesteigert. Es klang, als werde er jeden zerreißen, der in seine Nähe kam, sobald man die Tür des Zimmers öffnete, in dem er sich befand.
Charlotte dachte nicht daran, Narraway allein zu lassen. Sie trat näher und sah sich suchend nach dem Schirmständer um, den sie am Vorabend gesehen hatte. Sie nahm einen schwarzen
Narraway trat auf die Tür des Wohnzimmers zu, rechts von dem sich der Hund hörbar gegen die Tür zu einem anderen Raum warf, wobei er nun auf eine Weise knurrte, als habe er einen Feind oder Beute gewittert.
Narraway öffnete die Tür und blieb sofort reglos stehen. An seiner Schulter vorüber sah Charlotte, dass Cormac O’Neil rücklings auf dem Boden lag. Um die Überreste seines Kopfes herum bildete sich eine Blutlache.
Sie musste unwillkürlich schlucken und gab sich große Mühe, die in ihr aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken. Noch am Vortag hatte ihr dieser Mann lebend gegenübergesessen, hatte gewütet und Tränen wegen seines Grams vergossen. Jetzt war von ihm nichts übrig als ein toter Körper, der darauf wartete, von Menschen gefunden zu werden, denen möglicherweise nicht das Geringste an ihm lag.
Narraway trat zu Cormac, beugte sich vor und berührte dessen Wange mit den Fingerspitzen.
»Er ist noch warm«, sagte er und sah sich zu Charlotte um. Er musste laut sprechen, um das Gebell des Hundes zu übertönen. »Wir müssen die Polizei rufen.«
Kaum hatte er das gesagt, als sie hörten, wie die Haustür gegen die Wand schlug. Dann folgten Schritte.
Schon im nächsten Augenblick schrie eine Frau mit schriller Stimme auf. Charlotte sah sich um und erkannte Talulla Lawless. Sie war aschfahl, hatte die Hand vor den Mund geschlagen und starrte mit ihren wilden schwarzen Augen an Charlotte und Narraway vorbei zu dem am Boden liegenden Cormac hin.
Ein Polizeibeamter, der ihr auf dem Fuß gefolgt war, hielt hörbar den Atem an, als er das Bild sah, das sich ihm bot.
Am ganzen Leibe zitternd, stieß Talulla hervor, wobei sie wilde Blicke auf Narraway warf: »Ich habe meinen Onkel gewarnt. Nach dem, was gestern passiert ist, war mir klar, dass Sie ihn umbringen würden. Aber er wollte nicht auf mich hören. Ich habe es ihm gesagt! Ich habe es ihm gesagt!« Ihre Stimme wurde immer schriller, bis sie sich überschlug.
Der Polizist trat vor und fragte mit einem Blick zu Charlotte und Narraway: »Was ist hier vorgefallen?«
»Er hat meinen Onkel umgebracht, sehen Sie das nicht?«, kreischte Talulla. »Hören Sie doch, wie der arme Hund bellt! Lassen Sie den bloß nicht raus, sonst reißt er den Mörder in Stücke! Sein unaufhörliches Gebell hat mich überhaupt erst aufmerksam gemacht.«
»Er war schon tot, als wir hier ankamen«, schrie Charlotte sie an. »Wir wissen ebenso wenig wie Sie, was hier passiert ist.«
Narraway trat auf den Polizeibeamten zu. »Ich bin als Erster hereingekommen«, sagte er. »Die Dame hat draußen gewartet. Sie hat nichts mit der Sache zu tun. Sie kannte Mr O’Neil erst seit ganz kurzer Zeit; ich hingegen kenne ihn seit zwanzig Jahren. Bitte lassen Sie sie gehen.«
Talulla stieß ihre Hand vor und wies mit dem Finger auf den Boden. »Da liegt die Pistole! Gleich neben ihm. Dieser Mann hatte nicht mal die Zeit, sie fortzunehmen.«
»Natürlich nicht«, gab Charlotte zurück. »Wir sind schließlich gerade erst angekommen. Wenn Sie den …«
»Nicht, Charlotte«, sagte Narraway mit solchem Nachdruck, dass sie den Mund sogleich schloss. Erneut sah er den Polizisten an. »Ich bin als Erster ins Haus gekommen. Bitte lassen Sie die Dame gehen. Wie ich schon gesagt habe, kannte sie Mr O’Neil nur flüchtig und erst seit kurzer Zeit, ich hingegen schon seit vielen Jahren. Zwischen uns bestand eine alte Feindschaft, die erneut aufgebrochen ist. Das stimmt doch, Miss Lawless?«
»Ja!«, sagte diese mit Nachdruck. »Als der Hund angefangen hat zu bellen, konnte ich das von meinem Haus aus hören. Ich wohne nur ein paar Schritte von hier, gleich da drüben. Wenn das ein anderer getan hätte, hätte das Tier schon viel früher gebellt. Da können Sie alle fragen.«
Der Beamte ließ den Blick zwischen der Leiche, Narraway, dessen Schuhspitzen von Blut bedeckt waren, und Charlotte hin und her wandern, die mit kalkweißem Gesicht an der Tür stand. Der Hund bellte nach wie vor wie rasend und bemühte sich offenbar verzweifelt, aus dem Raum hinauszugelangen, in den ihn wohl jemand gesperrt hatte.
»Ich bedaure, aber Sie werden mitkommen müssen. Es wäre für alle das Beste, wenn Sie keine Schwierigkeiten machten. «
»Ich habe nicht die geringste Absicht, Ihnen Schwierigkeiten zu machen«, teilte ihm Narraway mit. »Sie können schließlich nichts dazu. Gestatten Sie mir, dass ich der Dame etwas Geld gebe, damit sie für den Heimweg eine Droschke nehmen kann? Das muss für sie ein entsetzlicher Schock gewesen sein.«
Der Polizeibeamte sah verwirrt drein. »Sie war mit Ihnen zusammen, Sir«, sagte er.
»Nein«, korrigierte ihn Narraway. »Sie ist nach mir eingetroffen. Sie war nicht hier, als ich ins Haus gekommen bin. Gleich nach meinem Eintreten hat O’Neil Streit angefangen, mich angegriffen, und mir blieb nichts anderes übrig, als mich zu verteidigen.«
»Sie sind gekommen, weil Sie ihn umbringen wollten!«, stieß Talulla hervor. »Er hat Sie als den Lügner und Betrüger bloßgestellt, der Sie sind, und dafür gesorgt, dass Sie Ihre Anstellung verlieren. Dafür wollten Sie sich rächen. Sie sind mit der Absicht gekommen, ihn zu erschießen.« Sie sah zu Charlotte hin. »Können Sie das bestreiten?«
»Ja, das kann ich«, gab Charlotte hitzig zurück. »Zwar stimmt es, dass ich erst nach Mr Narraway hier angekommen bin, aber zwischen unserem Eintritt lagen nur wenige Sekunden. Er befand sich erst in der Diele, als ich hereinkam. Die Tür zum Wohnzimmer war geschlossen. Wir haben Mr O’Neils Leiche im selben Augenblick entdeckt.«
»Lüge!«, schrie Talulla wieder. »Sie sind seine Geliebte und würden alles decken, was er sagt.«
Charlotte keuchte.
Ein belustigter und zugleich schmerzvoller Blick trat in Narraways Augen. Er wandte sich dem Polizisten zu: »Das stimmt nicht. Lassen Sie sie bitte gehen. Sofern Sie den Droschkenkutscher ausfindig machen können, mit dem Mrs Pitt gekommen ist, wird er Ihnen bestätigen, dass sie nach mir eingetroffen ist, und er muss auch gesehen haben, dass sie allein ins Haus gegangen ist. Wie Sie selbst bemerkt haben, ist O’Neil erschossen worden. Fragen Sie den Kutscher, ob er einen Schuss gehört hat.«
Der Beamte nickte. »Sie haben Recht, Sir.« Zu Talulla sagte er: »Und Sie gehen bitte nach Hause, Ma’am. Ich kümmere mich um die Angelegenheit.« Dann sah er zu Charlotte hin und erklärte: »Sie können gehen. Aber bleiben Sie bitte auf jeden Fall in Dublin. Wir müssen später noch mit Ihnen sprechen. Wo wohnen Sie?«
»Molesworth Street Nummer 7.«
»Danke, Ma’am. Das ist alles. Und jetzt lassen Sie mich bitte meine Arbeit tun.«
Es blieb Charlotte nichts anderes übrig, als hilflos mit anzusehen, wie ein zweiter Beamter, der inzwischen hereingekommen war, Narraway Handfesseln anlegte und ihn zu Talullas unübersehbarer Befriedigung hinausführte.
Benommen und schrecklich allein lief sie über den schmalen Gartenweg zur Straße.
KAPITEL 8
Ohn esic zu uwehren, ließ sich Pitt von den beiden kräftigen Polizeibeamten abführen. Widerstand zu leisten wäre ebenso sinnlos gewesen wie der Versuch, die Zusammenhänge erklären zu wollen. Aufgrund der Aussage des Schaffners waren die beiden fest überzeugt, dass sie es mit einem gewalttätigen Geistesgestörten zu tun hatten, der zwei ihm möglicherweise völlig unbekannte Männer von der Plattform eines schnell fahrenden Zuges in den Tod gestoßen hatte.