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Die zugleich erbosten und verängstigten Fahrgäste hatten nur undeutlich mitbekommen, was auf der Plattform geschehen war.

»Ich weiß genau, was ich gesehen hab!«, sagte einer von ihnen mit vor Entsetzen noch bleichem Gesicht und trat auf dem Bahnsteig so weit wie möglich von Pitt fort. »Er hat sie beide runtergeschubst. Passen Sie ja auf, dass er Sie nicht auch noch umbringt! Er ist verrückt! Hat die beiden einfach von der Plattform geschubst, erst den einen und dann den anderen. «

»Er hat mich angegriffen, und ich musste mich zur Wehr setzen«, betonte Pitt.

»Welcher, Sir?«, fragte ihn einer der Beamten. »Der Erste, oder der Zweite?«

»Der Zweite«, gab Pitt zur Antwort. Er hörte selbst, wie verzweifelt seine Stimme klang, und sogar ihm kam diese Erklärung lächerlich vor.

»Vielleicht gefiel ihm nicht, dass Sie den ersten Mann von der Plattform gestoßen hatten«, gab der Beamte zu bedenken. »Er wollte Sie festnehmen, ganz, wie es die Pflicht eines guten Bürgers ist.«

»Er hat mich zuerst angegriffen«, versuchte Pitt zu erklären. »Der andere wollte mir helfen und ist im Kampf gegen ihn unterlegen.«

»Aber als der Zweite Sie angegriffen hat, sind Sie siegreich geblieben, nicht wahr?«, fragte der Beamte unüberhörbar ungläubig.

»Das muss wohl so sein, sonst wäre ich nicht hier«, sagte Pitt ungeduldig. »Wenn Sie mir die Fesseln abnehmen, zeige ich Ihnen meine Dienstmarke. Ich arbeite für den Sicherheitsdienst. «

»Klar, Sir«, gab der Beamte sarkastisch zurück. »Und der hat nichts Besseres zu tun, als Leute aus Zügen zu werfen. Eine ausgesprochen sichere Angelegenheit.«

Nur mühsam brachte Pitt es fertig, die in ihm aufsteigende Wut zu beherrschen. »Sehen Sie in der Innentasche meines Jacketts nach«, stieß er zwischen den Zähnen hervor, »da finden Sie sie.«

Die beiden Männer sahen einander an. »Tatsächlich? Und welchen Grund haben Sie da, Leute aus Zügen zu werfen, Sir?«

»Der Mann hat mich angegriffen«, gab Pitt erneut zurück. »Er war ein gefährliches Individuum, das Gewalttaten geplant hatte.« Noch während er das sagte, war ihm klar, wie absurd diese Behauptung angesichts dessen klang, dass Gower tot irgendwo am Bahndamm lag, während er hier auf dem Bahnsteig stand, unverletzt, abgesehen von einigen blauen Flecken, die für Außenstehende nicht sichtbar waren.

»Ich erkläre es Ihnen noch mal«, setzte er erneut an. »Der Mann heißt Gower. Er hat mich angegriffen. Der Fremde wollte mir helfen, aber da Gower stärker war, konnte er nichts gegen ihn ausrichten. Ich hatte keine Möglichkeit, ihn zu retten. Dann hat Gower mich noch einmal angegriffen, aber diesmal war ich darauf gefasst und habe ihn überwältigt. Sehen Sie nach meiner Dienstmarke, dann wissen Sie, wer ich bin.«

Erneut sahen die beiden Beamten einander zweifelnd an. Schließlich trat einer äußerst vorsichtig zu Pitt, hielt dessen Jackett mit einer Hand auf und tastete mit der anderen in seiner Innentasche.

»Da is’ nix, Sir«, sagte er und zog die Hand rasch fort.

»In der Tasche befinden sich meine Dienstmarke und mein Pass«, gab Pitt zurück, während allmählich Panik in ihm aufstieg. Das konnte gar nicht anders sein, denn als er den Zug in Shoreham bestiegen hatte, waren beide noch da gewesen. Er erinnerte sich genau, dass er sie in die Tasche gesteckt hatte.

»Nein, Sir«, wiederholte der Beamte. »Ihre Tasche is’ völlig leer. Da is’ überhaupt nix drin. Warum komm’n Se nich einfach ruhig mit? Hat doch kein’n Sinn, hier großes Theater zu mach’n. Das schad’t Ihn’n nur, Sir.« Er wandte sich dem anderen Fahrgast zu. »Viel’n Dank für Ihre Mühe, Sir. Wir ham Ihr’n Nam’n un’ Ihre Anschrift notiert un’ meld’n uns, wenn wir Se noch mal bemüh’n müss’n.«

Pitt holte Luft, um sich erneut zu verteidigen, sah dann aber die Sinnlosigkeit eines solchen Versuches ein. Allem Anschein nach war ihm sein Pass mitsamt der Dienstmarke während des Kampfes aus der Tasche gefallen, auch wenn er sich das nicht recht vorstellen konnte, denn es war eine tiefe Tasche. Ob Gower beides rasch herausgezogen hatte, als er ihn gegen das Geländer gedrängt hatte? Er hatte nicht weiter darauf geachtet, weil er sich verzweifelt gegen den Angriff gewehrt hatte. Er wandte sich einem der beiden Beamten zu.

»Ich bin über Southampton aus Frankreich gekommen«, sagte er mit plötzlich aufkeimender Hoffnung. »Da muss ich meinen Pass ja wohl bei mir gehabt haben, sonst hätte man mich gar nicht ins Land gelassen. Meine Dienstmarke war in derselben Tasche. Das beweist doch wohl, dass man mich bestohlen hat.«

Kopfschüttelnd sah ihn der Beamte an. »Ich weiß nur, dass Sie in dem Zug war’n, Sir. Ich hab keine Ahnung, wo Se eingestieg’n sind oder wo Se vorher war’n. Komm’n Se einfach mit, un’ wir klär’n alles auf der Wache. Mach’n Se uns kein’n Ärger, Sir, Sie sitz’n auch so schon tief genug in der Tinte.«

»Haben Sie ein Telefon auf der Wache?«, erkundigte sich Pitt, während er sich abführen ließ. Weiter zu argumentieren hatte keinen Sinn. Dabei würde er nur den Kürzeren ziehen, und außerdem wäre das entwürdigend. Inzwischen hatte sich um die kleine Gruppe eine beträchtliche Menschenmenge angesammelt. In diesem Augenblick war es ihm unmöglich, Bedauern über Gowers Tod zu empfinden, wohl aber schmerzte und bekümmerte ihn der Tod des Mannes, der ihm zu Hilfe gekommen war.

»Haben Sie ein Telefon auf der Wache?«, fragte er erneut.

»Selbstverständlich, Sir. Falls Sie Angehörigen Bescheid sag’n woll’n, ruf ’n wir die gerne an, damit die wiss’n, wo Se sind«, versprach er.

»Vielen Dank.«

Auf der Polizeiwache wurde Pitt sogleich in eine Zelle geführt und die Tür hinter ihm verschlossen.

»Mein Telefonat!«, sagte er mit fordernder Stimme.

»Das erledig’n wir für Sie, Sir. Wen soll’n wir anruf ’n?«

Pitt hatte hin und her überlegt. Falls er zu Hause anrief, würde sich Charlotte ängstigen und Sorgen machen, ohne dass sie etwas hätte tun können. Da war es weit klüger, Narraway anzurufen, der das entsetzliche Durcheinander entwirren

»Is’ das ’n Verwandter?«, fragte der Beamte misstrauisch

»Mein Schwager«, log Pitt rasch. Er nannte ihnen die Nummer der Dienststelle in Lisson Grove. »Das ist sein Büro. Entweder ist er da, oder die Leute wissen, wo man ihn finden kann.«

»So spät noch, Sir?«

»Das Büro ist Tag und Nacht besetzt. Rufen Sie bitte einfach an.«

»Wie Se wünschen.«

»Danke.« Pitt setzte sich auf die harte hölzerne Pritsche und wartete. Er durfte auf keinen Fall die Ruhe verlieren. Alles würde sich binnen weniger Minuten aufklären. Dann wäre dieser Teil des Alptraums vorüber. Danach würde er sich mit dem Verrat Gowers beschäftigen müssen, der jetzt tot war. In der Stille seiner Zelle hatte er Gelegenheit, gründlich über alles nachzudenken.

Es hätte ihn nicht überraschen dürfen, dass Gower ihm gefolgt war. Zwar hatte das angenehme, freundliche Gesicht, das der Mann in Frankreich und eigentlich während der ganzen Zeit ihrer Zusammenarbeit gezeigt hatte, zu dessen Naturell gehört, und trotzdem war es nichts als eine Fassade gewesen, hinter der sich ein gänzlich anders gearteter Mann verborgen hatte.

Pitt dachte an Gowers Humor, an die Art, wie er der jungen Frau mit dem schwingenden Rock ihres roten Kleides nachgesehen und sich vorgestellt hatte, wie es sein würde, sie kennenzulernen. Auch musste er daran denken, wie gern Gower frisches Brot gegessen und seinen Kaffee schwarz getrunken hatte. Zwar hatte er jedes Mal über dessen bitteren Geschmack das Gesicht verzogen, sich aber trotzdem nachgießen lassen. Er sah ihn vor seinem inneren Auge, wie er lächelnd

Menschen setzten sich aus allen möglichen Gründen für diese oder jene Sache ein. Unter Umständen hatte Gower ebenso fest an das von ihm verfolgte Ziel geglaubt wie Pitt an das seine – sie waren einfach von äußerst unterschiedlichem Charakter gewesen. Eigentlich hatte er den Mann gut leiden können und sich in dessen Gesellschaft wohl gefühlt. Wieso nur war ihm die Bedenkenlosigkeit nicht vorher aufgefallen, die es Gower ermöglicht hatte, West zu töten und sich später leichthin gegen ihn, Pitt, zu wenden.