Выбрать главу

Und wenn es ihm in Wahrheit gar nicht leichtgefallen war? Vielleicht hatte er die ganze Nacht wach gelegen, sich mit allen möglichen Gedanken gequält, nach einem anderen Weg gesucht und keinen gefunden? Das würde er jetzt nie erfahren. Es war schmerzlich, sich darüber klarzuwerden, dass so vieles anders sein konnte, als man angenommen hatte, und seine eigene Einschätzung des Mannes so deutlich von der Wirklichkeit abgewichen war. Er konnte sich gut vorstellen, was Narraway dazu sagen würde.

Der Beamte kam zurück und blieb einen Schritt von den Gitterstäben entfernt stehen. Als Pitt sah, dass er keinen Schlüssel in der Hand hielt, sank ihm der Mut. Mit einem Mal fühlte er sich entsetzlich verloren.

»Tut mir leid, Sir«, sagte der Beamte unbeholfen. »Ich hab die Nummer angeruf ’n. Das war zwar ’ne Polizeidienststelle, aber die ham gesagt, dass es da kein’n Narraway gibt un’ man Ihn’n nich’ helf ’n kann.«

»Das ist völlig unmöglich!«, sagte Pitt verzweifelt. »Natürlich ist Narraway da. Er ist Leiter des Sicherheitsdienstes! Rufen Sie noch einmal an. Wahrscheinlich hat man Sie falsch verbunden. «

»Nein, die Nummer war schon richtig, Sir«, gab der Beamte unerschütterlich zurück. »Es war der Sicherheitsdienst, ganz, wie Se gesagt ham. Aber die ham mir gesagt, dass es da kein’n Victor Narraway gibt. Ich hab noch nachgefragt, Sir, un’ die ham ganz höflich gesagt, dass se sicher wär’n. Da gibt’s kein’n Victor Narraway. Un’ jetz’ seh’n Se zu, dass Se sich ’n bissch’n ausruh’n könn’n. Morg’n früh seh’n wir dann weiter. Soll ich Ihn’n ’ne Tasse Tee un’ vielleicht auch ’n belegtes Brot bring’n?«

Alles schien sich um Pitt herum zu drehen. Der Alptraum wurde immer schlimmer. In seiner Vorstellung zeichneten sich die fürchterlichsten Schreckensbilder ab. Was war mit Narraway geschehen? Wie weit reichte die Verschwörung? Vielleicht hätte er an die Möglichkeit denken müssen, dass die Leute, die ihn zu einem vergeblichen Unternehmen nach Frankreich gelockt hatten, auch Narraway aus dem Weg räumen würden, denn sonst wäre ein solches Manöver nicht sinnvoll gewesen. Pitt stand lediglich im zweiten Glied. Er mochte Narraways rechte Hand sein, war aber auf keinen Fall mehr als das. Eine wirkliche Bedrohung für jene Leute ging ausschließlich von Narraway aus.

» Woll’n Se jetz’ ’ne Tasse Tee, Sir?«, wiederholte der Polizeibeamte sein Angebot. »Se seh’n ’n bissch’n mitgenomm’n aus. Un’ ’n belegtes Brot?«

»Ach ja, bitte …«, sagte Pitt müde. Er war dem Mann dankbar für seine Menschlichkeit, doch ließ sie ihm die ganze Situation nur noch grotesker erscheinen. »Vielen Dank.«

»Seh’n Se zu, dass Se sich ausruh’n, Sir. Quäl’n Se sich nich’ so. Ich besorg Ihn’n ’n belegtes Brot. Wär’s Ihn’n recht mit Schink’n?«

»Ja, sehr gern, danke.« Zum Zeichen dafür, dass er den Beamten keine Schwierigkeiten machen wollte, setzte er sich wieder auf die Pritsche. Ohnehin fühlte er sich ziemlich mitgenommen.

Es war eine lange und quälende Nacht. Er schlief nur wenig, und sobald er einnickte, suchten ihn Angstträume heim, in denen Finsternis mit Lärm und plötzlich hereinbrechender Gewalttat abwechselten. Am nächsten Morgen erwachte er mit Kopfschmerzen, blauen Flecken und Schmerzen am ganzen Leib. Es kostete ihn große Mühe aufzustehen, als der Beamte erneut mit einer Tasse Tee zu ihm trat.

»Wir bring’n Se nachher zum Untersuchungsrichter«, sagte er, während er Pitt aufmerksam musterte. »Se seh’n entsetzlich aus.«

Pitt versuchte zu lächeln. »So fühle ich mich auch. Ich muss mich dringend waschen und rasieren, und mein Aufzug ist verheerend, weil ich in meinen Kleidern geschlafen habe.«

»So is’ das nun mal im Polizeigewahrsam, Sir. Hier, trink’n Se den Tee. Der hilft Ihn’n auf de Beine.«

»Das hoffe ich.« Er trat einen Schritt von der Tür zurück, damit der Beamte die Tasse hinstellen konnte, ohne einen Angriff von ihm befürchten zu müssen. Aus seiner Zeit im Polizeidienst wusste er, dass dies Verhalten üblich war.

Der Beamte sah ihn fragend an. »Se war’n wohl früher schon mal eingesperrt?«, bemerkte er.

»Nein«, gab Pitt zurück. »Aber ich habe das oft genug von außen mit angesehen. Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich selbst Polizeibeamter bin. Sie könnten noch eine andere Nummer anrufen, nachdem Mr Narraway nicht in seinem Büro zu sein scheint. Bitte. Ich muss unbedingt jemanden über meine Situation informieren, zumindest meine Angehörigen.«

»Un’ wer is’ das, Sir?« Der Beamte stellte die Tasse ab, verließ die Zelle rückwärts und schloss sie wieder ab. »Sag’n Se

»Lady Vespasia Cumming-Gould«, teilte ihm Pitt mit. »Ich schreibe Ihnen die Nummer auf, wenn Sie mir einen Bleistift geben.«

»Sag’n Se se mir einfach, Sir. Ich schreib se schon auf.«

Widerspruch war zwecklos, und so nannte ihm Pitt die Nummer.

Zehn Minuten später kehrte der Mann mit vor Staunen weit aufgerissenen Augen und ein wenig bleich im Gesicht zurück.

»Se sagt, dass se Se kennt, Sir. Hat Se ganz genau beschrieb’n un’ gesagt, dass Se einer von ’n best’n Polizeibeamt’n in ganz London sind un’ Mr Narraway genau das is’, was Se gesagt ham, dass dem aber was passiert is’. Se schickt ’n Abgeordnet’n aus’m Unterhaus her, der Se hier raushol’n soll. Außerdem hat se noch gesagt, wir sollt’n Se ja anständig behandeln, sonst müsste se mal ’n ernstes Wörtch’n mi’m Polizeipräsident’ red’n. Ich weiß ja nich’, ob das alles so stimmt, Sir. Se versteh’n hoffentlich, dass ich Se hier drin behalt’n muss, bis der Mann aus London kommt und beweis’n kann, wer er is’. Es könnte ja sons’ jemand sein, un’ immerhin gibt es da zwei Leich’n an der Bahnstrecke.«

»Natürlich«, sagte Pitt matt. Er sagte ihm lieber nicht, dass es sich bei Gower ebenfalls um einen Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes gehandelt hatte und er erst am Vortag hinter dessen Ränkespiel gekommen war. »Selbstverständlich warte ich hier«, sagte er. »Es wäre mir aber lieb, wenn Sie mich erst dann vor den Untersuchungsrichter führten, wenn der Mann hier ist, den Lady Vespasia schickt.«

»Ja, Sir, ich denke, das könn’n wir einricht’n.« Er seufzte. »Is’ wohl auch besser so. Wenn Se noch mal von Southampton komm’n, Sir, wär’s mir lieb, wenn Se über ’ne and’re Strecke fahr’n würd’n.«

Pitt brachte ein schiefes Lächeln zustande. »Die hier ist mir eigentlich ganz recht. Angesichts der Umstände haben Sie sich ausgesprochen einwandfrei verhalten.«

Der Beamte wusste nicht, was er sagen sollte, schien zu überlegen, brachte aber nichts heraus.

Nahezu zwei Stunden später schlenderte der elegant gekleidete Unterhausabgeordnete Somerset Carlisle in die Polizeiwache. Auf seinem Gesicht mischten sich Neugier, Belustigung und Mitgefühl. Vor vielen Jahren hatte er in London ganz bewusst eine Reihe von Skandalen ausgelöst, um damit auf eine eklatante Ungerechtigkeit aufmerksam zu machen, gegen die er auf andere Weise nichts hätte unternehmen können. Pitt war damals mit der Untersuchung des Falles beauftragt gewesen. Nachdem der Mord aufgeklärt worden war, um den es ging, hatte Pitt es nicht für erforderlich gehalten, Carlisle, der ihn auf so merkwürdige Weise ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt hatte, zu belangen. Das hatte dieser zu schätzen gewusst und ihm seither in mehreren Fällen beigestanden.

Da sich Carlisle anhand mitgebrachter Dokumente ausweisen und zweifelsfrei belegen konnte, dass er ein hohes Regierungsamt bekleidete, war Pitt binnen zehn Minuten in Freiheit. Er tat die Entschuldigungen der Polizeibeamten ab und versicherte ihnen, dass sie ihre Pflicht in beispielhafter Weise erfüllt hatten und er an ihnen nicht das Geringste auszusetzen habe.