»Was zum Teufel wird hier eigentlich gespielt?«, fragte Carlisle, während sie im Sonnenschein dem Bahnhof entgegenstrebten. »Vespasia hat mich heute Morgen angerufen und mir gesagt, dass man Sie eines Doppelmordes beschuldigt! Sie war ganz aufgeregt, was gar nicht ihre Art ist. Sie sehen grauenhaft aus, Mann, wenn ich das sagen darf. Brauchen Sie einen Arzt?« Zwar klang seine Stimme belustigt, aber in seinen Augen lag unverhüllte Besorgnis.
»Es war ein Kampf auf Leben und Tod«, sagte Pitt knapp. Es fiel ihm schwer, normal zu gehen. Ihm war noch gar nicht richtig zu Bewusstsein gekommen, welche Verletzungen er davongetragen hatte. »Auf der hinteren Plattform eines Eisenbahnwaggons in einem schnell fahrenden Zug.« Kurz berichtete er von dem Vorfall und dessen Hintergründen.
Carlisle nickte. »Eine äußerst undurchsichtige Angelegenheit. Ich bin nicht über alles informiert, wäre aber an Ihrer Stelle äußerst vorsichtig, Pitt. Vespasia hat mir gesagt, ich soll Sie nicht nach Lisson Grove bringen, sondern zu ihr. Am besten dürfte es sein, wenn Sie sich von Lisson Grove erst einmal fernhalten.«
Ein Schauer überlief Pitt. Die im Sonnenschein daliegende Straße, der Verkehrslärm um ihn herum, kamen ihm unwirklich vor. »Was ist mit Narraway?«
»Das weiß ich nicht. Ich habe dies und jenes gehört, habe aber nicht die geringste Ahnung, was da gespielt wird. Falls es überhaupt jemand weiß, dann Vespasia. Aber vorher nehme ich Sie erst einmal mit zu mir, damit Sie sich ein bisschen frisch machen können. Sie sehen aus, als hätten Sie die Nacht im Gefängnis verbracht.«
Pitt würdigte diese Bemerkung keiner Antwort.
Zwei Stunden später stieg Pitt vor Lady Vespasias Haus aus der Droschke. Er hatte sich nicht nur gewaschen und rasiert, sondern auch ihm von Carlisle zur Verfügung gestellte frische Wäsche, Socken und ein sauberes Hemd angezogen. Lady Vespasia, die zu einem silbergrauen Kleid eine lange Perlenkette trug, erwartete ihn bereits und geleitete ihn in den kleinen Salon, ihren Lieblingsraum, von dem aus der Blick auf den Garten fiel. Auf dem Tisch stand eine Schale mit frischen Narzissen, deren Duft den ganzen Raum erfüllte. Vor dem Fenster bewegte eine leichte Brise das junge Laub an den Bäumen.
Nach wie vor beeindruckte ihn Lady Vespasias Schönheit. Auch wenn sie wie immer gefasst war, kannte er sie gut genug, um tiefe Besorgnis in ihren Augen zu erkennen. Er war zu müde, um die Unruhe zu unterdrücken, die er dabei empfand.
Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Aha, Somerset hat dir also ein Hemd und eine Krawatte geliehen«, bemerkte sie mit feinem Lächeln.
»Sieht man das so deutlich?«, fragte er.
»Selbstverständlich. Du würdest dir nie im Leben ein Hemd in dieser Farbe oder eine Krawatte mit Bordeauxtönen kaufen. Beides steht dir aber wirklich gut. Setz dich doch bitte. Es ist lästig, wenn ich den Kopf in den Nacken legen muss, um dich anzusehen.«
Er war froh, im Sessel ihr gegenüber Platz nehmen zu können, denn langes Stehen strengte ihn an. Nachdem die Förmlichkeiten vorüber waren, wandte sie sich sogleich den drängenden Fragen zu, die beiden zu schaffen machten.
»Wo hast du nur gesteckt?«, fragte sie, ohne auch nur einen Gedanken an die Möglichkeit zu verschwenden, dass er die Frage nicht beantworten würde, weil es um eine vertrauliche Angelegenheit ging. Immerhin wusste sie mehr über die Macht und Gefahr von Geheimnissen als die meisten Kabinettsminister.
»In Saint Malo«, gab er zur Antwort. Es war ihm ausgesprochen peinlich, die ihm gestellte Falle erst so spät erkannt zu haben, doch er wich ihrem Blick nicht aus und berichtete das Abenteuer in allen Einzelheiten. So erfuhr sie, wem er mit Gower durch die Straßen nachgejagt war, wie Gower kurz zurückgeblieben war und Pitt nach ihrem erneuten Zusammentreffen zu der Ziegelei gelotst hatte, wo sie gesehen hatten, wie sich Wrexham über Wests Leiche beugte, dem man die Kehle durchgeschnitten hatte und dessen Blut die Steine des Ziegeleihofs bedeckte.
Lady Vespasia zuckte bei dieser drastischen Schilderung zusammen, unterbrach ihn aber nicht.
Als Nächstes beschrieb er, wie sie Wrexham erst ins East End, dann mit dem Zug bis Southampton und schließlich per Fähre bis nach Saint Malo verfolgt hatten. Er erklärte so ausführlich, warum sie ihn nicht gleich festgenommen hatten, dass er nach einer Weile den Eindruck hatte, es klinge wie eine Ausrede.
Tröstend sagte sie: »Dem gesunden Menschenverstand würde deine Handlungsweise gerechtfertigt erscheinen, denn damals konntest du es nicht anders wissen. Du darfst dir also von mir aus weitere Einzelheiten sparen. Du hattest Grund, eine sozialistische Verschwörung zu vermuten, und warst überzeugt, dass die wichtiger war als ein Mord in London. Was hast du in Saint Malo herausbekommen?«
»Herzlich wenig«, gab er zur Antwort. »Wir haben in den ersten Tagen einen oder zwei bekannte sozialistische Agitatoren gesehen … jedenfalls nehme ich das an.«
»Was meinst du mit ›Ich nehme das an‹?«, fragte sie.
Er erklärte ihr, dass Gower die Männer identifiziert und er sich damit zufriedengegeben hatte.
»Ich verstehe. Und wer waren die?«
Gerade als er sagen wollte, dass ihr die Namen kaum bekannt sein dürften, fiel ihm die Rolle ein, die sie um die Mitte des Jahrhunderts in den in großen Teilen Europas mit Ausnahme Großbritanniens ausgebrochenen Revolutionen gespielt hatte. In jener kurzen Zeit der Hoffnung auf eine neue Freiheit war sie in Italien selbst auf die Barrikaden gestiegen. Es war also durchaus möglich, dass sie nicht alles Interesse an diesen Dingen verloren hatte. »Jacob Meister und Pieter Linsky«, sagte er. »Aber sie sind nicht noch einmal gekommen.«
Sie runzelte die Brauen. Ihre Anspannung ließ sich an der Haltung ihrer Schultern erkennen und daran, wie sie die Hände im Schoß ineinanderschlang.
»Weißt du etwa, um wen es sich bei denen handelt?«
»Selbstverständlich«, sagte sie knapp. »Und auch von vielen anderen. Die Leute sind äußerst gefährlich, Thomas. Auf dem Kontinent erhebt ein neuer Radikalismus sein Haupt, und die nächsten Aufstände werden nicht wie die von 1848 ausgehen. Wir haben es mit einem ganz anderen Menschenschlag zu tun. Es wird mehr Gewalttaten geben, wahrscheinlich sogar sehr viel mehr. Wenn der Zar nicht lernt, dass er sich den Zeiten anpassen muss, wird die Monarchie dort nicht mehr von langer Dauer sein. Die Art, wie die Menschen in Russland unterdrückt werden, ist entsetzlich, und es herrscht eine erschreckende Armut. Ich habe noch einige alte Bekannte dort, die mir gelegentlich schreiben und mir schildern, wie es im Lande aussieht. Der Zar hat, wie auch seine sämtlichen Minister und Berater, jeden Bezug zur Wirklichkeit und zu seinem Volk verloren. So tief ist die Kluft zwischen denen, die einen geradezu obszönen Reichtum zur Schau stellen, und denen, die buchstäblich verhungern, dass sie sie schließlich alle miteinander verschlingen wird. Das Einzige, was wir nicht wissen, ist, wann es so weit sein wird.«
Diese Vorstellung ließ ihn erschauern, aber er sagte nichts und stellte ihre Voraussage auch nicht in Frage.
»Bedauerlicherweise kann ich dir auch von hier nichts Gutes berichten – einen Teil weißt du ja schon.«
»Nur dass Narraway nicht mehr in Lisson Grove ist«, gab er zur Antwort. »Carlisle hat mir aber weder gesagt, warum, noch, was genau geschehen ist.«
»Ich kenne die Hintergründe«, sagte sie mit einem tiefen Seufzer, und er sah die Trauer in ihren Augen. Sie war bleich und sah müde aus. »Man legt ihm zur Last, einen ansehnlichen Geldbetrag unterschlagen zu haben, der …«
»Wie bitte?« Der bloße Gedanke war widersinnig. Normalerweise hätte er nicht im Traum daran gedacht, ihr ins Wort
Ein Anflug von Belustigung funkelte in ihren Augen und verschwand gleich wieder. »Selbstverständlich ist mir die Absurdität dieses Vorwurfs bewusst, Thomas. Victor hat durchaus seine Schwächen, aber Übergriffe auf das Eigentum anderer gehören nicht dazu.«