»Du sagtest, ein ansehnlicher Betrag?«
»Ja, so ansehnlich, dass es sich durchaus lohnen würde, ihn zu stehlen. Es hat einen Mann das Leben gekostet, dass er diesen Betrag nicht zur Verfügung hatte. Falls Victor überhaupt seine Stellung im Sicherheitsdienst mit einem Diebstahl aufs Spiel setzen würde, müssten es schon die Kronjuwelen oder etwas Vergleichbares sein. Jemand hat die Sache mit außerordentlicher Gerissenheit eingefädelt. Ich habe zwar einen Verdacht, wer das sein könnte, aber er gründet sich auf nichts Greifbares, und möglicherweise gehe ich mit dieser Vermutung auch vollständig in die Irre.«
»Und wo ist Narraway?«, fragte er.
»In Irland.«
»Etwa im Gefängnis?«, fragte er. »Aber wieso in Irland?« Das musste er genauer erkunden. Er hatte ihn in London vermutet.
»Soweit ich weiß, ist er aus eigenem Entschluss dort hingereist, weil er überzeugt ist, dass Iren hinter diesem Manöver stecken und er die Lösung des Falles dort finden wird.« Sie biss sich leicht auf die Lippe. Er konnte sich nicht erinnern, sie je so tief besorgt gesehen zu haben.
»Tante Vespasia?« Er beugte sich ein wenig vor.
»Er war sicher, dass es da um eine persönliche Abrechnung geht«, fuhr sie fort. »Einen Akt der Rache für eine lange zurückliegende Verletzung. Ursprünglich hatte ich angenommen,
»Du sagst, du hast das ursprünglich angenommen – heißt das, dass du deine Meinung geändert hast?«, fragte er.
»Nach allem, was du mir über deine Erlebnisse in Frankreich und deinen Mitarbeiter Gower gesagt hast, den weder du noch sonst jemand im Sicherheitsdienst verdächtigt zu haben scheint, vermute ich, dass sich Victor geirrt hat«, sagte sie. »Ich nehme an, dass das Ganze überhaupt nichts mit persönlicher Rache zu tun hat, sondern lediglich dem Zweck dient, ihn aus seinem Amt in London zu boxen und es jemandem mit weit geringeren Fähigkeiten zuzuschanzen – wenn nicht gar, schlimmer noch, jemandem, der mit den Sozialisten unter einer Decke steckt oder zumindest mit ihnen sympathisiert. Auch würde ich denken, dass man dich aus demselben Grund nach Frankreich gelockt hat.«
Ein bitteres Lächeln trat auf seine Züge. »Ich verfüge weder über Narraways Erfahrung noch über seine Macht«, teilte er ihr offen mit. »Daher lohnt es sich für die Leute nicht, mich wegzulocken.«
»Du bist zu bescheiden, mein Lieber.« Sie sah ihn freundlich an. »Wahrscheinlich hättest du dich mit Zähnen und Klauen für Victor eingesetzt. Ich denke, du kannst ihn gut leiden, und selbst wenn diese Einschätzung nicht zutreffen sollte, bist du ihm auf jeden Fall verpflichtet. Immerhin hat er dich beim Sicherheitsdienst untergebracht, als dich die Londoner Polizei entlassen hat und klar war, dass du auf keinen Fall je wieder dorthin zurückkehren könntest, weil du dort zu viele Feinde hast. Das war für ihn nicht ganz ungefährlich, denn er hat sich damit selbst weitere Feinde geschaffen. Es gibt durchaus
Sie sah ihn fest an. »Ganz davon abgesehen sind auch dir viele im Sicherheitsdienst feindlich gesonnen, weil er dir diesen Gefallen erwiesen hat und du auch ziemlich schnell aufgestiegen bist. Jetzt, wo er nicht mehr da ist, ist die Frage durchaus offen, wie lange du dich dort noch halten kannst. Selbst wenn du Glück hättest und man dich nicht sofort entlässt, müsstest du dich ständig absichern und auf das Schlimmste gefasst sein. Falls du das nicht wissen solltest, wärest du ein weit argloseres Gemüt, als ich bisher angenommen habe.«
»Die Treue, die ich ihm schulde, hätte genügt«, erwiderte er ihr. »Aber natürlich hast du Recht. Mir ist klar, dass meine Stellung dort ohne Narraways Schutz auf die Dauer unhaltbar wäre.«
Mit sanfter Stimme fuhr sie fort: »Mein Lieber, es ist aus mehreren Gründen unerlässlich, dass wir alles tun, was wir können, um Victors guten Namen wiederherzustellen. Ich freue mich, dass du das so deutlich siehst.«
Mit einem Mal empfand er ein sonderbares Gefühl, eine Art Frösteln, das wie eine Warnung war.
Sie neigte den Kopf leicht zur Seite und fuhr fort: »Dann wirst du auch verstehen, warum Charlotte mit ihm nach Irland gereist ist, um ihn dort auf jede erdenkliche Weise zu unterstützen. Es wird für ihn, jetzt so auf sich gestellt, schwer genug sein. Unter Umständen ist es ihr möglich, sich an Orten umzusehen oder umzuhören, die er keinesfalls aufsuchen kann.«
Einen Augenblick lang verstand er nicht, was sie gesagt hatte, als habe sie in einer fremden Sprache gesprochen. Die Schlüsselwörter
»Charlotte ist in Irland?«, fragte er fassungslos. »Das ist doch nicht möglich! Was könnte sie dort ausrichten? Sie kennt das Land nicht und weiß mit Sicherheit weder etwas über Narraways Vergangenheit noch über seine früheren Fälle oder andere Angehörige des Sicherheitsdienstes.« Fast hätte er ihr gesagt, sie müsse etwas missverstanden haben. Das wäre zwar unhöflich von ihm gewesen, aber es gab keine andere Erklärung.
»Thomas«, sagte sie mit bedeutungsvoller Stimme. »Die Lage ist außerordentlich ernst. Victor ist in einer prekären Situation, denn man hat ihm jeden Zugang zu seinem Büro verwehrt, womit ihm keins der Mittel des Sicherheitsdienstes mehr zur Verfügung steht. Wir wissen, dass zumindest eine Person, die dort eine hohe Position bekleidet, ein Betrüger und Verräter sein muss, aber nicht, wer das ist. Charles Austwick hat Narraways Posten übernommen …«
»Austwick?«
»Ja. Siehst du jetzt, wie besorgniserregend das Ganze ist? Glaubst du wirklich, Victor Narraway könnte den Verräter ohne Hilfe aufspüren? Ganz offensichtlich hat keiner von euch etwas von Gowers Verrat gewusst, nicht einmal Victor. Wer weiß, wie viele dich noch hintergehen würden? Charlotte ist sich zumindest teilweise der Gefahr bewusst, auch der, die dir persönlich droht. Begleitet hat sie Victor teils aus Loyalität zu ihm, in erster Linie aber, um ihm zu helfen, sein Amt zu bewahren, weil ihr nur allzu klar ist, dass auch deine Anstellung davon abhängt. Es gibt zudem einen weiteren Punkt, über den nachzudenken du möglicherweise noch keine Zeit hattest. Nachdem es den Leuten gelungen ist, den Eindruck zu erwecken, Victor habe ein Eigentumsdelikt begangen, dürfte es ihnen kaum schwerfallen, dich als mitschuldig hinzustellen.«
Der bloße Gedanke entsetzte Pitt. Er war erschöpft und litt noch unter dem Schock der Enttäuschung und dem Entsetzen über die von ihm am Vortag verübte Gewalttat. Er war so müde, dass er in dem bequemen Sessel, in dem er saß, hätte einschlafen können. Zugleich aber verkrampften sich sein Rücken, seine Schultern und sein Nacken vor Angst, ihn schwindelte geradezu. Was ihm Lady Vespasia da eröffnet hatte, machte alles nur noch schlimmer. Er bemühte sich, die Dinge in die richtige Perspektive zu rücken.
»Ist Charlotte dort, wo sie sich befindet, wenigstens in Sicherheit? « Ihm ging durch den Kopf, dass »Sicherheit« angesichts dessen, dass sie sich mit Narraway in Irland aufhielt, wohl das falsche Wort war.
»Thomas, Victor ist bei ihr. Er wird nicht zulassen, dass ihr etwas zustößt, sofern er es verhindern kann«, versuchte sie ihn zu beruhigen.
Obwohl Pitt wusste, dass Narraway eine Schwäche für Charlotte hatte, begehrte er auf. »Wenn ihm etwas an ihr läge, hätte er nicht …«, setzte er an.
»Du meinst: zugelassen, dass sie mit ihm dorthin reist?«, beendete sie den Satz für ihn. »Thomas, ihr Motiv war nicht nur Freundestreue, sondern vor allem der Wunsch, deine berufliche Zukunft und damit die finanzielle Sicherheit eurer Familie zu gewährleisten. Was hätte er deiner Ansicht nach sagen oder tun können, um sie daran zu hindern?«
»Er hätte ihr ja nicht zu sagen brauchen, dass er dahin wollte!«, stieß er hervor.
»Ist das dein Ernst?« Sie hob ihre silbergrauen Brauen. »Hätte er sie auch im Unklaren darüber lassen sollen, warum du nicht nach Hause gekommen bist, nachdem du deinen Informanten durch die Straßen Londons verfolgt hattest? An jenem Abend und während der ganzen darauffolgenden Woche? Natürlich hätte sie, wenn sie sich lange genug geängstigt hätte,