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»Nein …« Er kam sich töricht vor und war zugleich von Panik erfüllt. Was sollte er nur tun? Am liebsten wäre er spornstreichs nach Irland aufgebrochen, um sich zu vergewissern, dass es Charlotte gutging. Doch er brauchte nicht lange zu überlegen, um zu erkennen, dass er damit unter Umständen ebenso viel Schaden anrichten wie Gutes bewirken konnte. Außerdem lag das Kernproblem nicht dort, sondern in London. Nicht nur hatte er keine Vorstellung davon, um welchen alten Fall Narraways es sich handelte, denn davon gab es eine ganze Reihe – es sah inzwischen auch ganz so aus, als habe jemand mit einem Ablenkungsmanöver auch Narraway auf eine falsche Fährte gelockt, ganz so wie ihn mit der angeblich nötigen Verfolgung Wrexhams nach Frankreich. Sollten die Dinge tatsächlich so liegen, würde er den Leuten geradezu in die Hände spielen, wenn er nun ohne nachzudenken blind reagierte. Er verwarf diesen Impuls als verantwortungslos.

»Dann gehe ich jetzt nach Hause und kümmere mich um die Kinder«, sagte er etwas ruhiger. »Nach einer ganzen Woche allein mit Mrs Waterman sind sie bestimmt froh, von ihr erlöst zu werden. Mit der Frau ist nicht immer gut Kirschen essen. Ich muss unbedingt mit Charlotte darüber sprechen, sobald sie zurück ist.«

»Du brauchst dir keine Sorgen zu machen«, begann Lady Vespasia.

»Du kennst sie nicht …«, hielt er dagegen.

»Das ist völlig unerheblich«, teilte ihm Lady Vespasia mit. »Sie ist gegangen.«

»Wie bitte? Dann …«

Lady Vespasia hob die Hand. »Das ist der andere Punkt, über den ich dich in Kenntnis setzen wollte. Charlotte hat statt ihrer eine junge Frau eingestellt, die Gracie ihr empfohlen hat. Diese Minnie Maude scheint mir sehr tüchtig zu sein. Darüber hinaus schaut Gracie jeden Tag bei euch im Haus vorbei. Ich war ebenfalls schon zweimal dort und habe festgestellt, dass alles zum Besten steht. Übrigens gefällt mir diese Minnie Maude sehr; die Frau hat Charakter.«

Pitt schwirrte der Kopf. Alles um ihn herum schien sich zu verändern. Kaum sah er hin, war es nicht mehr wie zuvor, so, als habe jemand ein Kaleidoskop ein Stückchen weiter gedreht und alle Glasstückchen darin hätten sich zu einem völlig neuen Bild geordnet.

»Minnie Maude?«, fragte er stockend, »wie alt ist die um Gottes willen?« In seinen Augen war Gracie kaum mehr als ein Kind. Das hing nicht nur damit zusammen – was ihm durchaus bewusst war –, dass er sie kannte, seit sie dreizehn Jahre alt gewesen war, sondern auch damit, dass sie nach wie vor so klein war. Ihre beachtlichen Fähigkeiten und ihre bemerkenswerte Tapferkeit kannte er aus Erfahrung. Wer mochte diese Minnie Maude sein, der man seine Kinder anvertraut hatte?

»Um die zwanzig«, gab ihm Lady Vespasia Auskunft. »Gracie kennt sie seit ihrem achten Lebensjahr. Sie ist mutig und vernünftig. Du brauchst dir wirklich keinerlei Sorgen zu machen, Thomas. Wie gesagt, ich war selbst dort, und es gab keinen Grund zur Klage. Ich kann dir auch versichern, dass Daniel und Jemima wunderbar mit ihr auskommen. Glaubst du etwa, ich hätte nichts unternommen, wenn es anders wäre?«

Jetzt kam er sich schwerfällig und zutiefst undankbar vor. »Nein, natürlich nicht.« Ihm war klar, dass er sie um Verzeihung bitten musste. Von reiner Sorge hatte er sich zu törichten und ungehörigen Äußerungen verleiten lassen. »Bitte entschuldige, ich …« Er suchte nach Worten.

Sie lächelte auf eine Weise, die ihr Gesicht aufleuchten ließ und all die Schönheit zum Vorschein brachte, für die sie einst berühmt gewesen war. »Ich würde dich weniger schätzen, wenn du das für selbstverständlich hieltest«, sagte sie. »Möchtest du eine Tasse Tee trinken, bevor du gehst? Und hast du Hunger? In dem Fall solltest du mir sagen, was du gern hättest – ich lasse es dir dann machen. Inzwischen können wir miteinander besprechen, was als Nächstes zu tun ist. Jetzt dürfte es wohl an dir sein, festzustellen, was es mit dieser hinterhältigen Geschichte auf sich hat, und nach Möglichkeit zu ermitteln, wer der Verräter in Lisson Grove ist.«

Ihre Worte ernüchterten ihn mit einem Schlag. Es sah ihr ähnlich, bei einer Tasse Tee im Salon über Revolutionen, Mord und Hochverrat zu sprechen. Das rückte alles zurecht, und die Welt kam ihm nicht mehr wie ein Irrenhaus vor. Zumindest ein Teil dieser Welt war noch so, wie es sich gehörte. Er holte tief Luft, atmete langsam aus und fasste sich.

»Danke. Ja, ich hätte gern einen Schluck Tee. Die Polizeiwache in Shoreham war nicht besonders gut auf solche Dinge eingerichtet. Und auch ein belegtes Brot wäre mir sehr recht.«

Als Pitt am frühen Nachmittag sein Haus in der Keppel Street erreichte, waren Daniel und Jemima noch in der Schule. Statt aufzuschließen, klopfte er an, um jene Minnie Maude, zu der Tante Vespasia so großes Zutrauen zu haben schien, nicht unnötig zu erschrecken.

Während er auf der Schwelle von einem Fuß auf den anderen trat, überlegte er, welche Veränderungen er wohl vorfinden würde. Was war unerledigt geblieben, und was an seinem vertrauten Heim hatte sich so verändert, dass er es nicht wiedererkennen würde? Vor allem hätte Charlotte da sein müssen, denn ohne sie war das Ganze nur eine leere Hülle.

Eine schlanke junge Frau öffnete und sah ihn zurückhaltend an.

»Was kann ich für Se tun, Sir?«, fragte sie höflich, wobei sie mitten im Türrahmen stehenblieb, damit er nicht einfach an ihr vorbei eintreten konnte. Sie war nicht hübsch, hatte aber schöne leuchtende Locken. Außerdem war ihr Gesicht voller Sommersprossen. Sie war deutlich größer als Gracie, doch ihr Blick war genauso offen und fast ebenso herausfordernd wie ihrer.

»Sind Sie Minnie Maude?«, fragte er.

»Entschuldigung, Sir, aber das geht Sie nichts an«, gab sie zur Antwort. »Wenn Sie mit dem Hausherrn sprechen wollen, geben Sie mir einfach Ihre Karte. Ich sag ihm dann, dass er sich bei Ihnen melden soll.«

Unwillkürlich musste er lächeln. »Dann gebe ich Ihnen in Gottes Namen meine Karte.« Er nahm eine aus der Tasche und hielt sie ihr hin, wobei er sich fragte, ob sie wohl lesen könne. Von Gracie wusste er, dass sie diese Kunst beherrschte, denn Charlotte hatte es ihr beigebracht.

Minnie Maude warf einen Blick auf die Karte, sah dann zu ihm hin und erneut auf die Karte.

Er lächelte.

Sie errötete bis an die Haarwurzeln. »Entschuldigung, Sir«, sagte sie stockend. »Ich hab Se ja nich’ gekannt.«

»Kein Grund, sich zu entschuldigen«, sagte er rasch. »Es war völlig richtig, niemanden einzulassen, von dem Sie nicht wussten, wer er ist.«

Sie tat einen Schritt zurück und ließ ihn eintreten. Kaum stand er in der vertrauten Diele, nahm er den Lavendelgeruch des frisch gebohnerten Fußbodens wahr. Der Spiegel an der Wand war fleckenlos, nirgendwo lag das kleinste Stäubchen, und Jemimas Schuhe standen ordentlich und sauber geputzt unter der Flurgarderobe.

Als Nächstes sah er sich in der Küche um. Alles war, wie es sein sollte: im Herd brannte ein Feuer, ohne dass der Raum überheizt gewesen wäre, die blau-weißen Teller und Untertassen waren säuberlich ins Tellerbord der Anrichte eingeräumt, das Kupfergeschirr hing blankgeputzt an der Wand, und der Küchentisch war blitzsauber. Der Geruch von frisch gebackenem Brot stieg ihm ebenso in die Nase wie jener der Wäsche, die zum Trocknen auf dem Gestell unter der Decke hing. Er war wieder daheim. Alles war, wie es sich gehörte, mit Ausnahme dessen, dass seine Frau und seine Kinder nicht da waren. Doch wusste er immerhin, wo sich Charlotte aufhielt, und die Kinder waren in der Schule.

»Möcht’n Se ’ne Tasse Tee, Sir?«, fragte Minnie Maude zögernd.

Zwar war das so kurz nach seinem Besuch bei Lady Vespasia nicht erforderlich, aber er hatte den Eindruck, dass sich die junge Frau nützlich machen wollte.

»Danke«, nahm er das Angebot an. »Ich muss anschließend noch einmal in die Stadt und weiß nicht, ob ich zum Abendessen zurück sein werde. Falls ja, genügt eine kalte Mahlzeit.« Dann wies er auf den in Frankreich gekauften kleinen Koffer, in dem er die Dinge des täglichen Bedarfs mitgebracht hatte, die er dort ebenfalls hatte kaufen müssen. »Außerdem ist hier drin etwas Wäsche, die gewaschen werden muss.«