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Croxdale sprach mit gedämpfter Stimme weiter, als befürchte er, ein Dienstbote könne ihn belauschen.

»Pitt, die Sache ist äußerst schwerwiegend. Ich bin froh, dass Sie das sofort begriffen haben. Um mit dieser katastrophalen Situation fertigzuwerden, müssen wir unsere Kräfte neu gruppieren. Sieht ganz so aus, als ob um uns herum lauter Verschwörungen lauerten. Meiner Überzeugung nach gehört das, was Sie und Gower ermittelt haben, zu einem umfassenden und möglicherweise äußerst gefährlichen Plan. Wir alle wissen, dass die Welle des Sozialismus in Europa schon seit längerer Zeit immer höher schwappt. Aus Gründen, die ich nicht zu erläutern brauche, konnte ich Narraway unmöglich länger im Amt lassen. Auf diesem Posten brauche ich den besten Mann, den ich finden kann. Er muss in jeder Hinsicht vertrauenswürdig sein, und in seiner Vergangenheit darf es keinen dunklen Punkt geben, nichts, was unsere gegenwärtigen Bemühungen um die Sicherheit unseres Landes gefährden könnte.«

Pitt zwinkerte. »Das versteht sich von selbst.« Wollte Croxdale mit diesen Worten durchblicken lassen, dass er Austwick für den Judas hielt? Dieser Frage war Pitt bisher bewusst ausgewichen

Im nächsten Augenblick fragte sich Pitt, ob er sich auf seine eigene Urteilskraft verlassen konnte. Immerhin hatte er auch Gower vertraut.

Croxdale sah ihn nach wie vor unverwandt an.

Pitt wusste nicht, was er hätte sagen können.

»Wir brauchen einen Mann, der weiß, was Narraway getan hat, und die Zügel da wieder aufnehmen kann, wo dieser sie hat fallen lassen«, fuhr Croxdale fort. »Der einzige Mann, auf den all das zutrifft, sind Sie, Pitt. Mir ist klar, dass ich damit eine Menge von Ihnen verlange, aber es gibt keinen anderen. Ich bin überzeugt, dass Narraways Urteil über Ihre Fähigkeiten und Ihre Integrität voll und ganz zutrifft.«

»Aber … Austwick … «, stotterte Pitt. »Er …«

»Als Lückenbüßer ganz in Ordnung«, sagte Croxdale kühl, »aber in Zeiten wie diesen nicht der richtige Mann für die Aufgabe. Ehrlich gesagt besitzt er weder die nötigen Führungsqualitäten, noch ist er imstande, Entscheidungen dieser Größenordnung zu treffen. Als einstweiliger Stellvertreter war er durchaus brauchbar.«

Pitt wurde schwindelig. Weder hatte er bei seiner bisherigen Tätigkeit im Sicherheitsdienst Entscheidungen treffen müssen, noch verfügte er über Erfahrungen mit den politischen Dimensionen der Stellung als dessen Leiter. Ganz davon abgesehen war er auch nicht so sehr von sich selbst überzeugt, dass er seine eigene Urteilskraft höher einschätzte als die anderer. Ihm war klar, dass er auf keinen Fall imstande wäre, schwierige Situationen so rasch, unauffällig und machtvoll zu lösen, wie Narraway das getan hatte. Erst in diesem Augenblick, während er Croxdale benommen ansah, ging ihm auf, eine

»Auch ich besitze nicht die erforderlichen Fähigkeiten«, sagte er schließlich. »Und ich bin auch noch nicht lange genug dabei, als dass mir die anderen Mitarbeiter rückhaltloses Vertrauen entgegenbringen würden. Ich werde Austwick bereitwillig nach Kräften unterstützen, fühle mich aber der Führungsposition nicht gewachsen.«

Croxdale lächelte. »Mit Ihrer Bescheidenheit habe ich mehr oder weniger gerechnet. Es ist eine positive Eigenschaft, denn aus Überheblichkeit entstehen Fehler. Ich bin überzeugt, dass Sie bei anderen Rat suchen und ihn auch befolgen werden – jedenfalls in der Mehrzahl der Fälle. Soweit mir bekannt ist, hat Sie bisher weder Ihre Urteilskraft im Stich gelassen noch Ihnen der Mut gefehlt, Ihren Überzeugungen entsprechend zu handeln. Ihre früheren Leistungen sind mir bekannt, Pitt. Glauben Sie wirklich, dass die unbemerkt geblieben sind?« Er fragte das mit einer Stimme, in der ein Anflug von Belustigung lag.

»Schon möglich«, räumte Pitt ein. »Sicher wissen Sie eine ganze Menge über Leute, die Sie in Dienst nehmen. Aber …«

»In Ihrem Fall war das anders«, widersprach ihm Croxdale, »denn Narraway hat Sie eingestellt. Aber ich habe Sie von Anfang an ganz bewusst im Auge behalten. Ihr Land braucht Sie, Pitt. Narraway hat unser Vertrauen auf die schändlichste Weise missbraucht. Sie waren seine rechte Hand, und so ist es für Sie nicht nur eine Ehre, die Ihnen angetragene Aufgabe zu übernehmen, sondern auch Ihre Pflicht.« Er hielt ihm die Hand hin.

Pitt wusste nicht, was er sagen sollte. Er empfand weder Freude noch das Gefühl, einer hohen Ehre teilhaftig zu werden, wohl aber überfielen ihn Trauer um Narraway und Angst um Charlotte. Überdies bedrückte ihn das Bewusstsein, dass

»Wir zählen auf Sie, Pitt«, sagte Croxdale. »Lassen Sie Ihr Land nicht im Stich, Mann!«

»Nein, Sir«, sagte Pitt unglücklich. »Ich werde tun, was ich kann, Sir …«

»Gut.« Croxdale lächelte. »Ich habe ja gleich gewusst, dass ich mich auf Sie verlassen kann. In dieser Hinsicht hatte Narraway Recht. Ich werde die entsprechenden Stellen von der Veränderung in Kenntnis setzen, unter anderem natürlich auch den Premierminister. Danke, Pitt, Sie haben uns eine große Last von der Seele genommen.«

Ihm blieb keine Wahl, als anzunehmen. Sogleich machte sich Croxdale daran, seinen künftigen Aufgabenbereich zu umreißen, ihm seine Vollmachten zu erklären und ihm mitzuteilen, welche Gegenleistungen er dafür erwarten durfte.

Es war Mitternacht, als Pitt in die von Laternen erhellte Nacht hinaustrat. Auf der Straße stand Croxdales Kutsche bereit, die ihn nach Hause bringen sollte.

KAPITEL 9

Als Charlotte Cormac O’Neils Haus so gefasst wie möglich verließ, fürchtete sie, jeder könne ihr die Angst, Verwirrung und hilflose Wut ansehen, die sie empfand. Ihr war bewusst, dass Narraway auf keinen Fall Cormac O’Neil getötet hatte, was auch immer er sonst auf dem Kerbholz haben mochte – und das war möglicherweise eine ganze Menge. Er hatte das Haus praktisch unmittelbar vor ihr betreten, gleich darauf hatte sie gehört, wie der Hund zu bellen begonnen und seine Lautstärke immer mehr gesteigert hatte. Ging das lediglich darauf zurück, dass er Narraways Eintreten gemerkt hatte, oder hatte es womöglich auch damit zu tun, dass er den Tod seines Herrn mitbekommen hatte?

Hatte O’Neil geschrien? Hatte er seinen Mörder gesehen, oder war er von hinten erschossen worden? Charlotte hatte keinen Schuss gehört. Das war der springende Punkt, natürlich! Sie hatte ausschließlich das Bellen des Hundes gehört. Es hatte Narraway gegolten, nicht aber demjenigen, der den Schuss abgefeuert hatte, wer auch immer das gewesen sein mochte.

Als ihr das aufging, blieb sie wie angewurzelt mitten auf der Straße stehen. Narraway konnte Cormac unmöglich erschossen haben. Diese Gewissheit gründete sich nicht darauf, dass

Niemand – natürlich nicht! Talulla Lawless würde ihr mit Sicherheit allein schon wegen ihres blinden Hasses auf Narraway widersprechen. Es würde sie freuen, wenn man ihn für den Mord an Cormac an den Galgen brachte. In ihren Augen wäre das ein Sieg der Gerechtigkeit – und sie würde es besonders genießen, weil sie so lange darauf hatte warten müssen. Zweifellos war ihr bewusst, dass er nicht schuldig war, denn sie hatte sich nahe genug am Ort des Geschehens aufgehalten, um selbst zu hören, wann der Hund angefangen hatte zu bellen. Doch zugleich wäre sie die Letzte, die das zugeben würde.

Das dürfte Narraway bewusst sein. Charlotte erinnerte sich an den Ausdruck seines Gesichts in dem Augenblick, als er zuließ, dass ihn der Polizeibeamte fesselte. Er hatte ihr lediglich einen kurzen Blick zugeworfen, in dem alles lag, was er zu sagen hatte. Es war unerlässlich, dass sie ihn verstand. Außerdem musste sie unbedingt einen kühlen Kopf bewahren und die Situation in allen Einzelheiten gründlich durchdenken. Handeln durfte sie erst, wenn sie sich ihrer Sache vollständig sicher war. Es genügte nicht, die Wahrheit zu kennen, sie musste auch die Möglichkeit haben, unwiderlegliche Beweise dafür vorzubringen. Es war äußerst schwierig, jemanden von etwas zu überzeugen, was dessen Empfindungen widerstrebte. Das galt in diesem Fall besonders, denn hier ging es um einen vor vielen Jahren aufgerissenen tiefen Graben zwischen Freund und Feind, um Überzeugungen, für die Menschen mit Blut und schweren Verlusten bezahlt hatten.