Sie stand nach wie vor reglos da. Inzwischen hatte sich vor dem etwa hundert Schritt entfernten Haus wegen der dort begangenen Gewalttat eine kleine Menschenmenge angesammelt. Man sah zu ihr her. Vermutlich fragten sich die Leute, warum sie dort stand.
Sie schluckte, strich sich den Rock glatt, wandte sich erneut um und machte sich auf den Weg zu einer Stelle, von der sie annahm, dass sie dort am ehesten eine Droschke zurück zur Molesworth Street finden konnte. Es galt, eine ganze Reihe praktischer Gesichtspunkte sorgfältig zu erwägen. Sie war jetzt völlig auf sich allein gestellt. In der ganzen Stadt gab es niemanden, dem sie trauen konnte. Sie musste überlegen, ob sie in Mrs Hogans Pension bleiben sollte oder ob es sicherer wäre, sich eine andere Unterkunft zu suchen, von der niemand etwas wusste. Schließlich hatte es sich inzwischen herumgesprochen, dass sie angeblich Narraways Halbschwester war.
Aber wohin könnte sie sich wenden? Wie lange würde es dauern, bis man sie in einer Stadt von der Größe Dublins aufspürte? Sie war dort fremd, eine auf sich allein gestellte Engländerin. Außer den Menschen, denen sie durch Narraways Vermittlung vorgestellt worden war, kannte sie niemanden. Sicher würde es nur Stunden dauern, bis man sie entdeckt hätte. Dann würde es lächerlich wirken, dass sie das Quartier gewechselt hatte, und den Eindruck erwecken, als habe sie einen Grund, sich zu verstecken.
Sie schritt rasch aus und versuchte so zu tun, als kenne sie ihr Ziel und wisse, was sie dort wollte. Ersteres stimmte sogar. Sie sah eine Droschke, die einen Fahrgast absetzte. Wenn sie schnell genug war, konnte sie sich von ihr in die Molesworth Street fahren lassen. Sie erreichte sie gerade in dem Augenblick, als der Kutscher sein Pferd antrieb, um zu wenden.
»Kutscher!«, rief sie. »Würden Sie mich in die Molesworth Street bringen?«
»Selbstverständlich gern«, gab er zur Antwort, beendete das Wendemanöver und ließ sie einsteigen. Erleichtert und dankbar nahm sie Platz. Sie wandte sich nicht um, während die Droschke davonfuhr. Sie konnte sich die Szene deutlich genug vorstellen. Narraway, der sich, gefesselt wie ein gefährlicher Verbrecher, in jenem Haus befand, musste sich entsetzlich einsam fühlen. Ob er Angst hatte? Sicherlich würde er das nie zeigen. Vermutlich verheimlichte er diese Angst, wenn er sie empfand, wie alle anderen Empfindungen, die ihn verletzlich machten und die er nach außen hinter seinem spöttischen Humor versteckte.
Sie mahnte sich, weniger an sich selbst zu denken. Pitt war irgendwo in Frankreich, fest überzeugt, dass Narraway nach wie vor Lisson Grove leitete, während er in Wahrheit niemanden hatte, auf den er sich stützen konnte. Nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen würde er annehmen, dass man seinen Vorgesetzten in Irland unter Mordverdacht festhielt und das Hauptquartier des Sicherheitsdienstes sich – zumindest teilweise – in den Händen von Hochverrätern befand. Angesichts dieser Situation waren ihre eigenen Gefühle unerheblich. Wichtig war jetzt einzig und allein die Rettung Narraways, und dazu musste sie sich bemühen, die Wahrheit nicht nur zu erkunden, sondern auch zu beweisen.
Als Täter kam ausschließlich jemand in Frage, bei dessen Betreten des Hauses der Hund nicht anschlagen würde. Es musste also jemand sein, den er kannte, jemand, der dort ein und aus ging. Damit fiel der Verdacht automatisch auf Talulla. Ihr Onkel Cormac lebte allein, das hatte er am Vorabend zu Charlotte gesagt, als sie ihn gefragt hatte. Vermutlich kam von Zeit zu Zeit eine Zugehfrau zum Putzen und Waschen, doch selbst wenn man annahm, dass sie gerade jetzt dort gewesen war – welchen Grund hätte sie haben sollen, ihren Arbeitgeber zu töten? Woher hätte sie überhaupt eine Schusswaffe?
Warum also sollte ihn ausgerechnet seine Nichte Talulla getötet haben? Aus Pitts früheren Fällen war Charlotte bekannt, dass Morde ausgesprochen häufig von Angehörigen oder anderen dem Opfer nahestehenden Menschen begangen wurden. Natürlich bestand die Möglichkeit eines Raubüberfalls, doch hätte der Hund sofort angeschlagen, wenn ein Einbrecher ins Haus gekommen wäre.
Aus welchem Grund mochte Talulla ihn getötet haben – und warum gerade jetzt? Womöglich, um Narraway die Schuld daran zu geben? Doch woher hätte sie wissen können, dass er dort sein würde?
Die Antwort auf diese Frage lag auf der Hand: Der Brief, der Narraway dorthin gelockt hatte, stammte von Talulla und nicht von Cormac. Es dürfte ihr nicht schwergefallen sein, die Handschrift ihres Onkels nachzuahmen. Zwar mochte sich Narraway aus der Zeit vor zwanzig Jahren daran erinnern, wie diese aussah, aber bestimmt nicht in solchen Einzelheiten, dass er eine gute Fälschung als solche erkannt hätte.
Aber auch damit blieb nach wie vor die Frage, warum sie gerade diesen Zeitpunkt gewählt hatte. Cormac und sie waren die beiden einzigen Überlebenden der zwanzig Jahre zurückliegenden Tragödie. Er war kinderlos, und Talullas Eltern lebten nicht mehr. Zweifellos waren beide davon überzeugt, dass Narraway die Schuld an deren Tod trug. Welches Motiv aber hätte Talulla gehabt, Cormac zu töten? Gab es etwas, wovon sie nicht zulassen durfte, dass Narraway es erfuhr, und hatte er womöglich unmittelbar davorgestanden, das herauszubekommen?
Doch auch das ergab keinen Sinn, denn in dem Fall hätte es sich eher angeboten, Narraway zu töten.
Charlotte erinnerte sich an den Ausdruck, der auf Talullas Gesicht getreten war, als sie Narraway an Cormacs Leiche hatte stehen sehen. Sie war nahezu hysterisch gewesen. Sicher
Während der Droschkenfahrt nahm Charlotte nicht das Geringste von der Schönheit der Stadt Dublin um sich herum wahr. Lediglich als ihr kalter Regen auf Gesicht und Schulter fiel, reagierte sie einen Augenblick lang auf ihre Umwelt und schloss das Fenster.
Welchen Anteil hatte Talulla an der ganzen Geschichte? Auf welche Weise hing das alles mit Mulhare und dem unterschlagenen Geld zusammen? Unmöglich konnte Talulla die Intrige in die Wege geleitet haben – es sei denn, in Lisson Grove gab es jemanden, der die Leidenschaft der Iren schürte und alte Wunden aufriss, um auf diese Weise jemanden zu finden, der ihnen Narraway vom Halse schaffte. Sofern diese Vermutung zutraf und nicht lediglich ein Produkt von Charlottes überreizter Vorstellungskraft war – wer war daran beteiligt? Wen konnte sie fragen? Gab es unter Narraways angeblichen Freunden jemanden, der bereit war, ihm zu helfen? Oder hatte er jeden einzelnen von ihnen irgendwann so sehr verprellt oder hintergangen, dass sie keinen anderen Wunsch kannten, als sich an ihm zu rächen, wenn der Zeitpunkt dafür günstig war?
Vielleicht aber fällte sie damit ein oberflächliches Urteil, zu dem sie kein Recht hatte. Was würde sie in der umgekehrten Situation empfinden, wenn beispielsweise die Iren Englands ausländische Zwingherren wären? Würde sie, falls jemand ihre Angehörigen benutzt und verraten hätte, weiterhin an ihren Überzeugungen festhalten, sich dem Anstand und einer vorurteilsfreien Suche nach Gerechtigkeit verpflichtet fühlen? Das war denkbar – aber keineswegs sicher. Auf diese Frage könnte sie höchstens eine so theoretische Antwort geben, dass sie auf keine praktische Situation anwendbar wäre.
So oder so – Narraway hatte keinen Anteil an Cormacs Tod. Während sie sich das sagte, ging ihr auf, dass er ihrer festen Überzeugung nach nur teilweise an Kate O’Neils Untergang schuldig war. Hatten nicht die Angehörigen der Familie O’Neil ihrerseits ihn zu benutzen versucht, indem sie ihn dazu bringen wollten, Verrat an seinem Vaterland zu begehen? Zwar hatten sie allen Grund, sich zu ärgern, weil ihnen das misslungen war, aber gab ihnen das ein Recht, sich dafür an ihm zu rächen?