»Und was wird aus solchen Kindern, wenn sie erwachsen sind?«, fragte sie jetzt. »Beispielsweise eine Frau, die bereit ist, ihrem Onkel ein Loch in den Kopf zu schießen, um sich an dem Mann zu rächen, von dem sie annimmt, dass er ihre Mutter verraten hat?«
Das überraschte ihn, wenn auch nur einen kurzen Augenblick lang, dann verschwand der Ausdruck von seinem Gesicht. »Natürlich denkt sie das«, gab er zur Antwort. »Sie kann sich nicht gut vorstellen, dass Kate freiwillig mit ihm gegangen ist, obwohl sie ihm möglicherweise sogar nach England gefolgt wäre, wenn er sie dazu aufgefordert hätte, wer weiß?«
»Sie?«, fragte sie sofort.
»Ich?« Seine Brauen hoben sich. »Ich habe nicht die geringste Ahnung.«
»Und hat Sean sie tatsächlich deshalb umgebracht?«
»Auch davon habe ich nicht die geringste Ahnung.«
Sie wusste nicht, ob sie ihm glauben durfte oder nicht. Er hatte sich ihr gegenüber reizend verhalten, hatte ihr großzügig seine Zeit geopfert, sie begleitet, war ihr aber trotz allem hinter der lächelnden Fassade vollständig fremd. Sie hatte keine Vorstellung von dem, was er dachte, hätte nicht sagen können, ob das abwegige und unerträgliche Sachen waren.
»Lauter Dinge, zu denen es ganz zufällig gekommen ist«, sagte sie. »Kate, Sean, Talulla, Cormac. Und was ist die Hauptsache, um die es dabei geht, Mr McDaid? Irlands Freiheit?«
»Könnte es für uns Iren eine bessere Sache geben, Mrs Pitt?«, fragte er in liebenswürdigem Ton. »Man kann doch sicher verstehen, dass Talulla sich das wünscht? Hat sie nicht schon genug dafür bezahlt?«
Doch das ergab keinen Sinn, erklärte die Sache jedenfalls nicht vollständig. Wer steckte hinter der Rückbuchung des für Mulhare bestimmten Geldes auf Narraways Konto? Hatte sie lediglich bewirken sollen, ihn für diese Rache nach Irland zu locken? Aber warum so kompliziert? Hätte sich Talullas Rachedurst nicht auch dadurch befriedigen lassen, dass sie Narraway selbst tötete? Warum um Himmels willen musste sie dafür den armen Cormac opfern? War das nicht unnötig verwickelt und letzten Endes auch ziemlich sinnlos? Wenn sie wollte,
Das konnte durchaus ein Teil des Bildes sein, war aber mit Sicherheit nicht alles.
»Und warum ausgerechnet jetzt? Dafür muss es doch einen Grund geben.«
McDaid sah sie nach wie vor abwartend an.
»Ich denke schon, dass sie genug dafür bezahlt hat«, beantwortete sie seine Frage. »Aber gilt das nicht auch für Cormac?«
»Ach ja … der arme Cormac«, sagte McDaid leise. »Sie müssen wissen, dass er Kate geliebt hat. Deshalb konnte er Narraway auch nicht verzeihen. Kate konnte Cormac gut leiden, hätte ihn aber nie geliebt … In erster Linie wohl, weil er Seans Bruder war. Ich habe immer Cormac für den Besseren der beiden gehalten. Vielleicht hat Kate am Ende ebenso gedacht. «
»Das würde aber nicht erklären, warum ihn Talulla erschossen hat«, gab Charlotte zu bedenken.
»Da haben Sie Recht. Natürlich nicht …«
»Auch so ein Zufallsopfer, gleichsam nebenbei?«, fragte sie mit einem Anflug von Bitterkeit. »Wessen Freiheit wollen Sie um einen so hohen Preis erringen? Wird dabei nicht auf die Dauer zu viel Kummer angehäuft?«
Einen Augenblick lang blitzte es in seinen Augen auf, dann war der Ärger verflogen. Aber er war unübersehbar gewesen.
»Auch Cormac hatte sich schuldig gemacht«, sagte er finster.
»Und worin bestand seine Schuld? Darin, dass er überlebt hat?«
»Ja, aber das war nicht alles. Er hat sich keine sonderlich große Mühe gegeben, Sean zu retten. Ehrlich gesagt hat er es
»Vielleicht hat aber Cormac in ihm genau das gesehen«, gab sie zu bedenken. »Gramgebeugte Menschen reagieren mitunter langsam. Es dauert eine Weile, bis die Benommenheit von ihnen weicht. Vielleicht war er zu entsetzt, als dass er etwas Vernünftiges hätte unternehmen können. Welche Möglichkeiten hätte er denn überhaupt gehabt? Hat Sean nicht selbst gesagt, warum er Kate umgebracht hatte?«
»Er hat so gut wie nichts gesagt«, sagte McDaid und hielt diesmal den Blick auf den Boden gerichtet, statt Charlotte anzusehen.
»Auch er war wohl zu benommen«, sagte sie. »Aber jemand muss Talulla gesagt haben, dass Cormac ihren Vater hätte retten können, und das hat sie geglaubt. Es ist leichter, im eigenen Vater einen verratenen Helden zu sehen als einen eifersüchtigen Ehemann, der seine Frau umgebracht hat, weil sie ihm zusammen mit seinem Feind, noch dazu einem Engländer, Hörner aufgesetzt hat.«
McDaid sah sie mit erneut aufflammendem Zorn an, beherrschte seine Züge aber gleich darauf wieder so vollständig, dass sie geneigt war anzunehmen, sie habe sich das eingebildet.
»So sieht es aus«, stimmte er zu. »Aber wie können wir irgendeinen dieser Punkte beweisen?«
Sie spürte, wie Kälte in ihr hochkroch. »Das weiß ich nicht. Ich versuche es mir zu überlegen.«
»Seien Sie auf der Hut, Mrs Pitt«, mahnte er sie freundlich. »Ich fände es ausgesprochen bedauerlich, wenn auch Sie gleichsam nebenbei zum Opfer würden.«
Sie brachte es fertig zu lächeln, so, als könne sie sich nicht vorstellen, dass seine Worte ebenso sehr eine Drohung wie
Als sie in der Molesworth Street eintraf, trat Mrs Hogan sogleich auf sie zu. Sie sah verlegen drein und verdrehte ihre Schürze in den Händen.
Charlotte sprach das Thema an, bevor Mrs Hogan nach Worten suchen konnte.
»Offensichtlich haben Sie bereits von der entsetzlichen Sache mit Mr O’Neil gehört«, sagte sie. »Ich hoffe sehr, dass Mr Narraway imstande ist, der Polizei bei ihren Nachforschungen behilflich zu sein. Er hat mit solchen Tragödien eine gewisse Erfahrung. Selbstverständlich hätte ich Verständnis dafür, wenn Sie es lieber sähen, dass ich unterdessen bei Ihnen ausziehe. Natürlich müsste ich eine Übergangslösung finden, bis ich nach Hause zurückkehren kann. Ich nehme an, dass das einen oder zwei Tage dauern wird. Also werde ich die Sachen meines Bruders zusammenpacken und zunächst bei mir unterbringen, damit Sie sein Zimmer weitervermieten können. Soweit ich weiß, sind die nächsten Nächte bereits bezahlt?«
Wenn der Himmel wollte, würde sich der Fortgang der Angelegenheit in zwei Tagen entschieden haben, und zumindest ein weiterer Mensch in Dublin würde mit Sicherheit wissen, dass Narraway die Tat nicht begangen hatte.
Mrs Hogan war peinlich berührt. Mit diesen Worten hatte ihr Charlotte die Sache aus den Händen genommen, und jetzt wusste sie nicht, was sie tun sollte. Ganz wie von Charlotte erhofft, stimmte sie dem vorgeschlagenen Kompromiss zu. »Danke, Ma’am. Das wäre sehr freundlich von Ihnen.«
»Wenn Sie mir den Schlüssel für das Zimmer meines Bruders geben könnten, werde ich das gleich erledigen.« Mit diesen Worten hielt Charlotte ihr die Hand hin.
Zögernd händigte ihr Mrs Hogan den Schlüssel aus.
Charlotte schloss Narraways Zimmer auf und ging hinein. Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, kam sie sich wie ein Eindringling vor. Sie würde seine Habe einpacken und darum bitten, dass man ihr den großen Koffer trug, wenn sie es nicht schaffte, ihn selbst hinüber in ihr Zimmer zu schleifen.
Wichtiger als seine Hemden, Socken und Wäsche waren Papiere. Hatte er womöglich irgendetwas schriftlich festgehalten? Falls ja – war es so abgefasst, dass sie es verstehen konnte? Könnte sie doch wenigstens Thomas um Rat fragen! Er hatte ihr noch nie so sehr gefehlt wie jetzt. Andererseits war ihr bewusst: wenn er hier wäre, befände sie sich jetzt in ihrem Haus in London, statt verzweifelt zu versuchen, eine Aufgabe auszuführen, für die sie sich so wenig eignete. Hier ging es nicht um ein alltägliches Verbrechen, für das sich die Beweise in aller Ruhe Stück für Stück zusammentragen ließen. Sie befand sich in einem fremden Land, von dessen Träumen und Vorstellungen sie so gut wie nichts wusste und in dem sie niemanden so recht kannte. Vor allem aber wurde sie dort als Feindin wahrgenommen, und das mit Grund, denn das Gewicht von Jahrhunderten der Geschichte stand gegen sie.