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Sie öffnete Narraways Koffer, ging an den Kleiderschrank, nahm seine Anzüge und Hemden heraus, faltete alles ordentlich zusammen und packte es ein. Dann zog sie die Kommodenschubladen auf, wobei sie sich vorkam, als stecke sie ihre Nase in Angelegenheiten, die sie nichts angingen, nahm seine Leibwäsche heraus und packte sie ebenfalls ein. Auch den Schlafanzug unter dem Kopfkissen vergaß sie nicht. Sein

Als Nächstes wandte sie sich den Toilettenartikeln zu, wobei sie einige lange schwarze und graue Haare aus seiner Haarbürste entfernte. Was für ein persönlicher Gegenstand so eine Haarbürste doch war! Ihr folgten die Zahnbürste, sein Rasierzeug und eine kleine Kleiderbürste. Dabei kam ihr der Gedanke, wie entsetzlich sich dieser stets wie aus dem Ei gepellt auftretende Mann in einer Gefängniszelle fühlen musste, in der man sich wohl so gut wie nicht waschen konnte und keinerlei Privatsphäre hatte.

Seine wenigen Papiere fand sie in der obersten Schublade, zum Glück nicht in einer verschlossenen Dokumentenmappe. Allerdings konnte das nur bedeuten, dass sie einem Außenstehenden nichts sagen würden.

Nachdem sie seinen Koffer in ihrem Zimmer in eine Ecke gestellt hatte, ging sie die wenigen Notizen durch, die er sich gemacht hatte. Sie waren ein sonderbares Spiegelbild seines Wesens, zeigten eine Seite von ihm, von der sie nichts geahnt hatte. Meist waren es kleine, geradezu winzige Zeichnungen, doch ausgesprochen gut ausgeführt, auch wenn es nur Strichmännchen waren. Sie zeigten charakteristische Merkmale auf so lebendige Weise, dass sie sogleich wusste, wen sie darstellen sollten.

Neben einem kleinen Mann in einer gestreiften Hose, in dessen Hutband ein Geldschein steckte, stand eine Frau mit wirrem Haar und hinter ihm eine weitere, noch schlankere Frau, bei deren Armen und Beinen die Knochen durch die Haut zu stoßen schienen.

Obwohl Arme und Beine nur angedeutet waren, wusste Charlotte sogleich, dass es sich dabei um John und Bridget Tyrone handeln musste. Die andere Frau wirkte so ungebärdig,

Außer einem Mann, von dem man lediglich die obere Hälfte sehen konnte, als stecke er bis zu seinen Armen in etwas, war das alles. Sie sah eine ganze Weile hin, bis ihr mit Entsetzen die Erleuchtung kam. Es war Mulhare, der ertränkt worden war, weil ihn das Geld nicht erreicht hatte.

Die kleine Zeichnung wies auf eine Verbindung zwischen Talulla und John Tyrone hin. Charlotte wusste, dass er Bankier war, und die Art der Darstellung ließ darauf schließen, dass das sein entscheidendes Merkmal war. In dem Fall dürfte er in der Angelegenheit eine entscheidende Rolle gespielt haben. Lief der Kontakt nach London über ihn? Hatte er aufgrund seines Berufs die Möglichkeit gehabt, Geld von Dublin nach London zu verschieben und mit Hilfe eines Mitwissers oder Mittäters in Lisson Grove dafür zu sorgen, dass es erneut auf Narraways Konto landete?

In dem Fall stellte sich die Frage, wer sein Kontaktmann in Lisson Grove war und aus welchem Grund dieser auf so infame Weise gehandelt hatte. Das würde ihr niemand außer Tyrone sagen können.

Ob es sinnlos oder gar gefährlich sein würde, ihn aufzusuchen? Sie wusste nicht, an wen sie sich sonst hätte wenden können, da ihr nicht bekannt war, wer außer ihm mit der Sache zu tun hatte. Auf keinen Fall konnte sie McDaid noch einmal aufsuchen, denn in ihr festigte sich immer mehr die Gewissheit, dass seine Äußerungen über Unschuldige, die »zufällig nebenbei« Opfer wurden, einerseits Ausdruck seiner Weltanschauung waren, ihr aber auch zur Warnung dienen sollten. Er kam ihr vor wie eine Urgewalt, die sich ihren Weg ohne Rücksicht auf Hindernisse bahnt.

War Talulla die treibende Kraft hinter Cormacs Tod oder nur das Werkzeug in den Händen eines anderen gewesen? Dafür

Sie sah zwei Möglichkeiten: Entweder ging sie zu Tyrone, oder sie gab auf, kehrte nach London zurück und überließ es Narraway, sich der Anklage zu stellen, immer vorausgesetzt, dass er bei der Gerichtsverhandlung noch lebte. Würde man ihm einen Prozess gemäß den gesetzlichen Vorschriften machen? Das war nicht unbedingt sicher. Die alten Wunden waren noch nicht verheilt, und der englische Sicherheitsdienst würde sich nicht auf seine Seite schlagen. Bei Licht besehen blieb ihr keine andere Möglichkeit, als Tyrone aufzusuchen.

Das Mädchen, das auf ihr Klopfen geöffnet hatte, ließ sie mit unübersehbarem Zögern eintreten.

»Ich muss dringend mit Mr Tyrone sprechen«, sagte Charlotte, kaum, dass sie in dem hohen Vestibül stand. »Es hat mit dem Mord an Mr Mulhare und an dem armen Mr O’Neil zu tun.«

»Ich sage es ihm«, gab das Mädchen zurück. »Wen darf ich melden?«

»Mrs Charlotte Pitt.« Sie zögerte nur einen kleinen Augenblick. »Victor Narraways Schwester.«

»Sehr wohl, Ma’am.« Sie ging davon und klopfte an eine Tür auf der gegenüberliegenden Seite des Vestibüls. Sie wurde geöffnet, das Mädchen sagte etwas, kehrte zurück und bat Charlotte, ihr zu folgen.

Das Mädchen klopfte erneut an die Tür.

»Herein.« Tyrones Stimme klang schroff.

Das Mädchen öffnete und ließ Charlotte eintreten. Offenkundig war Tyrone bei der Arbeit. Zahlreiche Papiere lagen auf seinem großen Schreibtisch verstreut.

Er erhob sich zu ihrer Begrüßung, ohne ein Hehl daraus zu machen, dass er sich gestört fühlte.

»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte sie. »Ich weiß, dass es spät ist und ich Sie überdies in Ihrem Hause aufsuche, ohne eingeladen worden zu sein. Aber die Sache duldet keinen Aufschub. Schon morgen würde es unter Umständen keine Möglichkeit mehr geben, etwas zu retten, sofern sich überhaupt noch etwas retten lässt.«

Mit erkennbarer Ungeduld trat er von einem Fuß auf den anderen. »Ich bedaure zutiefst, Mrs Pitt, dass ich nicht weiß, auf welche Weise ich Ihnen behilflich sein könnte. Ich denke, ich werde dem Mädchen sagen, dass sie meine Frau dazuholt.« Das klang mehr nach einer Ausflucht als nach einem ernstgemeinten Vorschlag. »Sie hält sich bei einer Nachbarin auf und kann gleich hier sein.«

»Ich muss aber Sie sprechen«, teilte sie ihm mit. »Vielleicht sollten Sie, um Ihren Ruf zu wahren, das Mädchen hereinbitten, auch wenn das, was ich mit Ihnen zu besprechen habe, vertraulich ist.«

»In dem Fall dürfte es das Beste sein, wenn Sie mich während der Geschäftszeiten in meinem Büro aufsuchten.«

Sie lächelte knapp und förmlich. »Die Vertraulichkeit betrifft ausschließlich Sie, Mr Tyrone. Das ist auch der Grund, warum ich gekommen bin.«

»Ich weiß nicht, wovon Sie reden.«

Ihre Vermutung gründete sich ausschließlich auf Narraways Zeichnung, denn außer ihr hatte sie nichts in der Hand.

Entschlossen wagte sie den Sprung ins kalte Wasser. »Es geht um das für Mulhare bestimmte Geld, das Sie auf das Londoner Konto meines Bruders zurücküberwiesen haben. Das Ergebnis dieser Transaktion war der Tod Mulhares und der berufliche Ruin meines Bruders, Mr Tyrone.«

Möglicherweise hatte er die Absicht, die Anschuldigung abzustreiten, doch eine unwillkürliche Veränderung bestätigte die Richtigkeit ihrer Vermutung: Alles Blut war aus seinem Gesicht gewichen, so dass seine Haut fast grau aussah. Er holte tief Luft, überlegte es sich dann aber offenbar anders und sagte nichts. Seine Augen funkelten, und einen Augenblick lang fragte sich Charlotte, ob er jemanden herbeiklingeln und sie auf die Straße setzen lassen wollte. Zwar würde vermutlich kein Dienstbote gegen sie handgreiflich werden, doch sollte sich einer der in die Angelegenheit verwickelten Mittäter im Hause befinden, würde das die Gefahr nur vergrößern, in der sie schwebte. McDaid hatte sie gewarnt.