Als sie endlich eine Droschke anhalten konnte, nannte sie dem Kutscher die Adresse und stieg ein. Unterwegs versuchte sie ihre Gedanken zu ordnen.
Noch hatte sie nicht alle Zusammenhänge durchschaut, kannte lediglich einzelne Elemente, die nur teilweise zueinander passten. Talulla war Seans und Kates Tochter. Wann hatte sie, und sei es auch nur in groben Zügen, erfahren, was wirklich geschehen war? Noch wichtiger aber war unter Umständen die Frage, wer sie über die Hintergründe aufgeklärt hatte.
Wer aber mochte Talulla auf diese Weise benutzt haben? Und warum? Hatte es Cormac lediglich »zufällig getroffen«, wie Fiachra McDaid zu sagen pflegte, in einem Kampf, der einem höheren Ziel diente? War in Wirklichkeit Narraway das eigentliche Opfer, um das es demjenigen ging? Wenn man Narraway für einen Mord hängte, den er nicht begangen hatte, wäre das in Talullas Augen in der Tat eine Art poetische Gerechtigkeit. Da sie überzeugt war, dass er die Schuld am Tod ihrer Mutter trug und ihr Vater nichts damit zu tun hatte, musste sich das für sie als elegante und geradezu vollkommene Lösung darstellen.
Aber wer steckte dahinter? Wer hatte sie dazu angestiftet, ihr die nötigen Informationen geliefert, ihre Leidenschaft angestachelt und damit gleichsam ihre Hand geführt? Und aus welchem Grund? Cormac dürfte es kaum gewesen sein und auch nicht John Tyrone, denn der schien nichts davon zu wissen, und Charlotte glaubte ihm das. Seine Frau Bridget? Möglich. Auf jeden Fall hatte sie mit der Sache zu tun. Die Art, wie sie an jenem ersten Abend spontan auf Charlotte reagiert
Von wem? War auch Tyrone, zumindest teilweise, ein weiteres beiläufiges Zufallsopfer? Hatte sich jemand seiner bedienen können, weil er verletzlich war, seine Frau mehr liebte als sie ihn und er als Bankier Zugang zu den erforderlichen Geldmitteln hatte?
Auf all diese Fragen gab es eine Antwort, der sie sich endlich stellen musste: Niemand anders konnte dahinterstecken als Fiachra McDaid. Auch wenn er mit der Vergangenheit nicht das Geringste zu tun gehabt haben und in keiner Weise in die Tragödie verwickelt gewesen sein mochte, so hatte er sich die ganze Geschichte doch zunutze gemacht. Für ihn bedeutete das Ziel alles und die Mittel, die ihm dazu dienten, es zu erreichen, nicht das Geringste. Das galt auch für die Opfer, die dabei auf der Strecke blieben, ob schuldig oder nicht.
Doch inwiefern konnte es der Sache Irlands dienen, dass man Narraway aus dem Sicherheitsdienst entfernte? Man würde einen anderen an seine Stelle setzen. War es das? Wollte man einen von den Iren gekauften und bezahlten Verräter einsetzen? Noch während sie diesem Gedanken nachhing, hielt die Droschke vor Mrs Hogans Pension. Sie hatte der Wirtin versprochen, am nächsten oder übernächsten Tag auszuziehen. Neben der Notwendigkeit, außer ihrem eigenen Gepäck auch das Narraways fortschaffen zu lassen, gab es andere Schwierigkeiten zu bedenken. Im Vordergrund stand das Bewusstsein, dass ihr Geld nicht für einen längeren Aufenthalt reichen würde, zumal sie noch ihre Fahrscheine für die Fähre und den Zug kaufen musste.
Wenn sie alles recht bedachte, blieb ihr eigentlich keine andere Wahl, als am nächsten Morgen zur Polizei zu gehen und dort ihre Sicht der Dinge darzulegen. Allerdings hatte sie für
Man würde sie fragen, warum sie das nicht gleich gesagt hatte. Sollte sie zugeben, dass sie angenommen hatte, man werde ihr nicht glauben? Würde sich ein schuldloser Mensch so verhalten?
Sie fiel in einen unruhigen Schlaf und wurde immer wieder wach, wobei sie jedes Mal daran denken musste, dass das Problem nach wie vor ungelöst war.
In der Haftzelle der nur gut einen Kilometer von Cormac O’Neils Haus entfernten Polizeiwache saß Narraway auf seiner Pritsche. Nach außen hin war er völlig reglos, doch seine Gedanken jagten sich. Er musste nachdenken, planen. Wenn man ihn ins Zentralgefängnis der Stadt verlegte, wäre das für ihn das Ende. Immer vorausgesetzt, er überlebte die Haft dort überhaupt so lange, würden sich bei der Hauptverhandlung Zeugen nur verschwommen erinnern, würde man sie dazu gebracht haben, Dinge anders einzuschätzen, als es der Wirklichkeit entsprach, oder gar dazu, sie zu vergessen. Weit schlimmer aber erschien es ihm, dass die unsichtbaren Mächte, die ihn nach Irland und Pitt nach Frankreich gelockt hatten, ihr Vorhaben, worin auch immer es bestehen mochte, inzwischen ausgeführt haben würden und man das Rad nicht mehr würde zurückdrehen können.
Länger als zwei Stunden saß er da, ohne sich zu rühren. Niemand kam, der das Wort an ihn gerichtet, ihm etwas zu essen oder zu trinken gebracht hätte. Mit der Zeit gewann in seinem Kopf ein verzweifelter Plan Gestalt. Mit dessen Ausführung hätte er gern bis zum Einbruch der Dunkelheit gewartet,
Aufmerksam lauschte er auf die leisesten Geräusche jenseits der Zellentür, achtete auf die kleinste Bewegung. Er hatte sich genau überlegt, was er zu tun hatte, wenn es so weit war.
Als ein Beamter den schweren Schlüssel im Schloss drehte und die Tür aufstieß, sah er, dass Narraways schönes weißes Hemd zerrissen an den Gitterstäben des Fensters hing und der Gefangene in einer Stellung am Boden lag, als habe er sich das Genick gebrochen.
»He, Flaherty!«, rief der Beamte. »Komm, schnell! Der blöde Mistkerl hat sich aufgehängt.« Er trat zu Narraway und beugte sich über ihn, um nach seinem Puls zu fühlen. »Heilige Mutter Gottes, ich glaub, der is’ tot!«, sagte er vor sich hin. »Flaherty, wo zum Teufel bleibst du?«
Bevor Flaherty kommen konnte, sprang Narraway auf und traf den Mann so heftig am Kinn, dass dessen Kopf nach hinten ruckte. Narraway versetzte ihm erneut einen Hieb, mit dem er ihn bewusstlos schlagen, aber auf keinen Fall töten wollte. Der Mann sollte höchstens fünfzehn oder zwanzig Minuten lang ohnmächtig sein, denn er brauchte ihn lebend und gehfähig. Er legte ihn dorthin, wo er selbst gelegen hatte, zerrte ihm den Uniformrock vom Leibe und nahm ihm die Schlüssel ab. Ihm blieb gerade noch Zeit, sich hinter die Tür zu stellen, als Flaherty eintrat.
Besorgt hielt er den Atem an für den Fall, dass Flaherty etwas witterte und die Geistesgegenwart besaß, die Tür hinter sich abzuschließen oder, schlimmer, sie sogleich zuzuschlagen und den Schlüssel von außen herumzudrehen. Aber der Anblick
Beim Verlassen der Wache achtete er sorgfältig darauf, dass ihn niemand sah, und blieb zweimal regungslos stehen, bis die Schritte der den Kollegen zu Hilfe eilenden Beamten verhallt waren.
Draußen auf der Straße hingegen rannte er mit voller Absicht. Er wollte auffallen, wollte, dass sich die Leute an ihn erinnerten, damit jemand den Verfolgern sagen konnte, in welche Richtung er sich gewandt hatte, falls sie nicht von selbst darauf kamen. Dazu aber müssten sie die Zusammenhänge kennen.
Es regnete. Schon bald war er durchnässt, und die Haare klebten ihm am Kopf. Die Passanten sahen ihn verblüfft an, wie er ohne Hemd unter der Jacke an ihnen vorüberrannte, aber niemand trat ihm in den Weg. Vermutlich hielten sie ihn für betrunken.
Für den Fall, dass noch Polizeibeamte Cormacs Haus bewachten, musste er sich außer Sichtweite halten. Unter keinen Umständen durfte er sich jetzt gleich fassen lassen. Er verlangsamte den Schritt und ging auf die andere Straßenseite. Als niemand zu sehen war, überquerte er vor Talullas Haus die Straße erneut. Falls sie nicht an die Tür kam, würde er eine Fensterscheibe einschlagen und sich gewaltsam Zutritt verschaffen müssen. Sein Plan beruhte darauf, dass sie einander gegenüberstanden, wenn ihn die Polizei einholte.