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Am nächsten Morgen verabschiedete sich Charlotte nach einem rasch eingenommenen Frühstück von Mrs Hogan und ließ eine Droschke kommen, die sie mit allem Gepäck zu der Polizeiwache bringen sollte, auf der Narraway festgehalten wurde.

Ihr war elend zumute. Als einzige Lösung war ihr eingefallen, den Beamten mitzuteilen, dass sie eine Aussage zum Tod Cormac O’Neils zu machen habe. Hoffentlich gab es auf der Wache einen einflussreichen Beamten mit klarem Verstand, der bereit war, sich ihren Bericht anzuhören.

Je näher sie ihrem Ziel kam, desto aussichtsloser erschien ihr, was sie sich vorgenommen hatte.

Der Gedanke, sich mit mehr Gepäck, als sie tragen konnte, einfach dort absetzen zu lassen, ängstigte sie ebenso sehr wie die Vorstellung, dass niemand ihre Geschichte glauben würde. Etwa hundert Schritt von der Wache entfernt hielt der Kutscher urplötzlich an und beugte sich nach unten, um mit jemandem zu sprechen, den Charlotte nicht sehen konnte.

»Wir sind noch nicht da!«, sagte sie verzweifelt. »Bitte fahren Sie noch ein Stück weiter. Ich kann das Gepäck unmöglich so weit tragen. Genau genommen kann ich es überhaupt nicht tragen.«

»Bedaure«, sagte der Kutscher in einem Ton, als empfinde er aufrichtiges Mitgefühl. »Das war einer von der Polizei. Er hat gesagt, dass ein gefährlicher Gefangener ausgebrochen ist und sie einen Aufruhr in der Bevölkerung fürchten. Sie haben die Straße ab hier gesperrt.«

»Ein Gefangener?«

»Ja. Engländer. Schrecklich brisant soll die Sache sein. Er ist gestern noch vor Tagesende einfach verschwunden. Wie sie in seiner Zelle nachgesehen haben, war er weg. Sie lassen keinen mehr zur Wache durch.«

Charlotte sah ihn an, als verstehe sie nicht, was er sagte, während sich ihre Gedanken überschlugen. Geflohen? Gestern? Ein Engländer? Das konnte nur Narraway sein, oder nicht? Vermutlich war ihm noch deutlicher bewusst als ihr, wie viele Menschen ihn hassten, wie leicht es ihnen fallen würde, dafür zu sorgen, dass die Beweise in einer Gerichtsverhandlung nach

Nach wie vor sah der Kutscher zu Charlotte hin und wartete auf ihre Entscheidung. »Ja dann …« Sie suchte nach Worten. Sie wollte zwar Narraway nicht allein in Irland zurücklassen, schon gar nicht jetzt, da man nach ihm suchte, aber sie sah keine Möglichkeit, ihm zu helfen. Woher hätte sie wissen sollen, wohin er sich wenden würde? War sein Ziel der Norden oder der Süden, das Landesinnere, oder wollte er sich bis zur Westküste durchschlagen? Auch wusste sie nicht, ob er im Lande jemanden kannte, den er um Hilfe bitten konnte, seien es Freunde oder alte Verbündete.

Dann überfiel sie ein neuer Gedanke und ließ sie erstarren. Bestimmt hatte man ihm bei seiner Festnahme alles abgenommen, auch sein Geld. Wenn er mittellos war, wovon würde er leben, seine Kosten bestreiten? Sie musste ihm helfen, obwohl sie selbst kaum noch Geld hatte.

Wenn er sich nur nicht einem der Menschen anvertraute, die er in Dublin kannte! Sie alle würden ihn an die Polizei ausliefern. Ihnen blieb gar keine andere Möglichkeit, denn sie waren einer wie der andere durch Erinnerungen und Bluttaten miteinander verbunden, durch alten Kummer, der zu tief reichte, als dass man ihn hätte vergessen können.

Mit der Frage »Wohin wollen Sie jetzt?« unterbrach der Kutscher ihren Gedankengang.

Nicht nur hatte Charlotte kein Geld, sie würde Narraway als seine angebliche Schwester auch nichts nützen, sondern ihm eher schaden. Sie konnte nichts für ihn tun. Ihre einzige Hoffnung bestand darin, nach London zurückzukehren

»Fahren Sie mich bitte nach Kingstown zum Fährhafen«, sagte sie, so gefasst sie konnte. »Ich denke, es dürfte das Beste sein, wenn ich das nächste Schiff nach England nehme.«

»Gern.« Er stieg wieder auf den Bock, wendete und trieb sein Pferd an.

Die nicht besonders lange Fahrt kam Charlotte endlos vor. Der Weg führte sie durch Straßen, in denen ohne weiteres sieben oder acht Kutschen nebeneinander fahren konnten, doch sie wirkten verglichen mit den verstopften Straßen Londons nahezu leer. Sie konnte es nicht abwarten, die Insel zu verlassen, doch zugleich war sie von Bedauern erfüllt. Sie würde gern eines Tages als namenlose Besucherin, frei von alten Belastungen, zurückkehren, um deren Schönheiten zu genießen. Jetzt aber beugte sie sich vor, spähte hinaus und zählte die Minuten bis zum Fährhafen. Nachdem ihr Gepäck abgeladen war, sah sie entmutigt die langen Schlangen von Menschen, die darauf warteten, an Bord des Dampfers zu gehen. Das Gedränge war so groß, dass sie immer wieder angestoßen wurde. Es war gar nicht einfach, das Gepäck nicht aus dem Auge zu verlieren und gleichzeitig das Geld aus dem Ridikül zu holen, um gleich eine Fahrkarte zu kaufen. Zweimal hätte man ihr fast den eigenen Koffer entwendet, während sie versuchte, den Narraways von der Stelle zu rücken.

»Darf ich behilflich sein?«, sagte eine Stimme dicht neben ihr.

Gerade wollte sie ablehnen, als sie eine Hand auf der ihren spürte, die nach Narraways Koffer griff. Sie hätte am liebsten vor Verzweiflung geweint, doch sie hob wütend ihren Fuß und trat dem Mann mit dem Absatz auf den Spann.

Er keuchte vor Schmerz auf, ließ aber den Koffer nicht los.

Sie hob den Fuß erneut, um noch fester zuzutreten.

»Charlotte, lass das verdammte Ding doch endlich los«, stieß Narraway zwischen den Zähnen hervor.

Darauf fiel ihr der eigene Koffer aus der Hand. Sie war so aufgebracht, dass sie ihn hätte ohrfeigen können, und zugleich so erleichtert, dass sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten und über die Wangen liefen.

»Ich nehme an, dass du kein Geld hast«, sagte sie mit erstickter Stimme.

»Nicht besonders viel«, gab er ihr Recht. »Ich habe mir von O’Casey etwas geborgt, so dass es für die Fähre nach Holyhead reicht. Aber da du mein Gepäck und damit mein Geld mitgebracht hast, schaffen wir die Strecke bis London auch noch. Bleib nicht stehen. Wir müssen Fahrkarten kaufen, und ich möchte unbedingt diese Fähre erreichen. Vielleicht bleibt mir keine Möglichkeit mehr, auf die nächste zu warten. Ich nehme an, dass man mich schon bald hier suchen wird. Ich muss unbedingt nach London, denn ich fürchte, dass da demnächst etwas Entsetzliches geschieht.«

»Es sind schon mehrere entsetzliche Dinge geschehen«, hielt sie dagegen.

»Sicher. Aber wir müssen verhindern, was in unseren Kräften steht.«

»Ich habe herausbekommen, wie die Sache mit dem Geld für Mulhare abgelaufen ist, und bin ziemlich sicher, dass ich weiß, wer dahintersteckt.«

»Tatsächlich?« In seiner Stimme lag unüberhörbar die Begierde, mehr zu erfahren.

»Ich sage es dir, wenn wir an Bord sind. Hast du den Hund gehört?«

»Was für einen Hund?«

»Cormacs Hund.«

»Natürlich. Das arme Vieh hat sich gegen die Tür geworfen, kaum dass ich im Haus war.«

»Und hast du auch den Schuss gehört?«

»Nein. Du etwa?«, fragte er verblüfft.

»Nein«, antwortete sie mit einem Lächeln.

»Ich verstehe.« Sie standen jetzt vor dem Fahrkartenschalter. Auch er lächelte, aber diesmal galt es dem Mann hinter dem Schalter. »Bitte zweimal Holyhead.«

KAPITEL 10

Pitt war sprachlos, als er den wahren Umfang und die ganze Bedeutung seiner neuen Aufgabe erfasste. Es gab weit mehr zu bedenken, als die vergleichsweise unerhebliche Frage, ob die Verschwörung der Sozialisten auf dem europäischen Kontinent ernsthafte Ausmaße annehmen würde oder es sich dabei um nichts weiter als einen erneuten Ausbruch der von Zeit zu Zeit auftretenden Gewaltäußerungen handelte, zu denen es im Lauf der letzten Jahre hier und da gekommen war. Immer vorausgesetzt, dass ein bestimmtes Vorhaben geplant war, dürfte es mit großer Wahrscheinlichkeit nicht auf England abzielen.

Als mit Frankreich verbündete Macht hatte England die Pflicht, alle wichtigen Informationen an die Behörden jenes Landes weiterzuleiten. Doch was hätte er sagen können, was über bloße Spekulationen hinausging? West war umgebracht worden, bevor er ihnen hatte mitteilen können, was er wusste. Im Rückblick lag der Verdacht nahe, dass Gower ein Verräter war. Doch war das alles, oder hatte noch mehr dahintergesteckt? Hatte West Kenntnis davon gehabt, auf welchen der Mitarbeiter außer Gower man sich in Lisson Grove nicht verlassen konnte? Und auf welcher Ebene spielte sich der Verrat ab? Ging es dabei um eine sozialistische Verschwörung? Hatte man die Betreffenden mit Geld oder Macht geködert? Oder