War womöglich auch Narraway bedroht worden, und hatte er sich dagegen zur Wehr gesetzt? Oder hatten man ihn einfach ohne Vorankündigung kaltgestellt, im Bewusstsein dessen, dass ein solcher Versuch sinnlos sein würde?
Während er in Narraways früherem Büro saß, gingen ihm all diese Gedanken durch den Kopf. Würde er der Nächste sein? Er hatte keine Vorstellung davon, welche Bedrohung er nach Ansicht jener unbekannten Kräfte für sie bedeuten konnte. Wohl auf keinen Fall eine so große wie Narraway. Er sah sich in dem Raum um, der ihm von der anderen Seite des Schreibtisches so vertraut gewesen war, dass er sogar jetzt noch, da er mit dem Rücken zur Wand saß, vor seinem inneren Auge die von Narraway dort aufgehängten Bilder sehen konnte. Es waren überwiegend Bleistiftzeichnungen von kahlen Bäumen mit wirrem Geäst, hinter denen der Himmel lediglich angedeutet war. Auf einer der Zeichnungen allerdings war ein alter steinerner Turm am Meer zu sehen, doch auch dort war der Vordergrund genauestens mit Licht und Schatten herausgearbeitet, während die See dahinter lediglich den Eindruck endloser Ferne vermittelte.
Er nahm sich vor, Austwick zu fragen, wo die Bilder jetzt waren, und sie wieder an ihren alten Platz zu hängen. Seiner Ansicht nach gehörten sie dorthin. Außerdem würden sie ihn ständig an Narraway erinnern – ein ebenso tröstender wie betrüblicher Gedanke. Falls man ihn nicht wieder in sein Amt einsetzte, würde Pitt sie ihm zurückgeben, denn sie waren sein Eigentum.
Narraway würde genau wissen, wie all die zum Teil widersprüchlichen Aufgaben in den sich vor Pitt auf dem Schreibtisch
Gewiss, Austwick hatte ihm Aktennotizen hinterlassen. Aber wie konnte er sich auf etwas von dem verlassen, was dieser Mann gesagt oder geschrieben hatte, ohne dass sich eine vertrauenswürdige Stelle für dessen Richtigkeit verbürgte? Solche Bestätigungen einzuholen würde Zeit in Anspruch nehmen, die er nicht hatte. Und wem durfte er überhaupt trauen? Ihm würde nichts anderes übrigbleiben, als den ganzen Wust durchzuarbeiten. Er würde die dringendsten Fälle zuerst in Angriff nehmen müssen, Angaben miteinander vergleichen, streichen, was ihm unwahrscheinlich erschien, und dann überlegen, was mit dem Rest zu tun war.
Während der Vormittag verging und ein Mitarbeiter nach dem anderen mit weiteren Akten, Lageberichten und schriftlich niedergelegten Einschätzungen hereinkam, wurde ihm schmerzlich bewusst, wie einsam sich Narraway gefühlt haben musste. Auch wenn er sich wohl auf die Ehrlichkeit mancher seiner Untergebenen verlassen durfte, mochte das nicht unbedingt für deren Urteilskraft gelten, jedenfalls nicht in jeder Beziehung. Bei anderen war er überzeugt, ihnen nicht einmal Tatsachenbehauptungen glauben zu dürfen, und so wagte er niemandem zu vertrauen. Jetzt, da er die Führung hatte, gestand ihm niemand Verletzlichkeit oder Unsicherheit zu, und alle waren überzeugt, dass man ihn nicht zu beraten brauchte.
Auf den Gesichtern der meisten seiner Untergebenen erkannte er Höflichkeit und den Respekt, den sie dem Mann an der Spitze schuldeten, doch sah er auf manchen auch Neid
Er hätte gern den größten Teil dessen, was er besaß, dafür gegeben, dass Narraway wieder an diesem Schreibtisch sitzen konnte. Stets fürchtete er, eine Situation falsch zu beurteilen, die Bedeutung von Informationen nicht richtig einzuschätzen oder auch einfach nicht den nötigen Mut und Verstand aufzubringen, um richtige Entscheidungen zu treffen. Ein einziger größerer Fehler, den er beging, konnte genügen, einen anderen Menschen das Leben zu kosten.
Aber Narraway saß jetzt irgendwo in Irland. Warum nur hatte Charlotte ihn begleitet? Um ihn im Kampf gegen das ihm angetane Unrecht zu unterstützen – oder aus Ergebenheit einem Freund gegenüber, der auf Hilfe angewiesen war? Wie sehr das ihrem Wesen entsprach! Andererseits aber war Narraway Pitts Freund und nicht der ihre. Noch während er über die Situation nachdachte, fielen ihm ein Dutzend kleiner Einzelheiten ein, die ihm gezeigt hatten, dass Narraway schon seit längerem in Charlotte verliebt war.
Er konnte sich genau erinnern, wann er das zum ersten Mal gemerkt hatte. Ihm war aufgefallen, wie sich Narraway in der Küche des Hauses in der Keppel Street umgewandt hatte, um sie anzusehen. Sie hatten es zu jener Zeit mit einem schwierigen Fall zu tun gehabt, und Narraway hatte ihn am späten Abend zu Hause aufgesucht, um mit ihm über einen neu aufgetretenen Aspekt zu sprechen. Charlotte, die ein altes Kleid trug, da es keinen Grund gegeben hatte, mit Besuch zu rechnen, hatte den Kessel aufgesetzt, um Tee zu machen. Das Licht der Lampe war auf eine ihrer Wangen und ihr dunkles Haar gefallen und
Als Narraway etwas sagte und sie sich zu ihm umwandte und lachte, hatte ihn der Ausdruck seines Gesichts verraten.
Ob ihr bewusst war, was Narraway für sie empfand?
Vor Jahren, ganz zu Anfang ihrer Beziehung, war es Pitt wie eine Ewigkeit vorgekommen, bis sie gemerkt hatte, dass er sie liebte. Seither hatten sie sich alle verändert. Damals war sie ein wenig unbeholfen gewesen, die mittlere von drei Schwestern und die einzige, für die die Mutter so recht keinen passenden Ehemann hatte finden können. Jetzt aber wusste Charlotte doch sicher, dass sie geliebt wurde, etwas anderes war gar nicht möglich. Zwar war denkbar, dass sie nicht wusste, wie sehr Pitt an ihr hing, doch hielt er das für unwahrscheinlich.
Bestimmt war sie entrüstet über die Ungerechtigkeit, mit der man Narraway behandelt hatte. Ganz davon abgesehen war sie ihm nach wie vor dankbar dafür, dass er Pitt zu einer Zeit, als es ihm schlecht ging, in den Sicherheitsdienst übernommen hatte. Ohne diese Anstellung hätte das Leben der Familie Pitt damals eine ausgesprochen trostlose Wendung nehmen können. Sofern ihr bewusst war, was Narraway für sie empfand, würde sie das in ihrem Verantwortungsgefühl ihm gegenüber womöglich noch bestärken. Zwar wäre es lachhaft anzunehmen, sie schulde ihm deswegen etwas – schließlich hatte sie nicht um seine Gunst gebuhlt –, aber Pitt wusste nur allzu gut, wie einfühlsam sie verletzliche Menschen behandelte. Das ging auf einen Beschützerinstinkt zurück, ähnlich wie ihn ein Muttertier mit Jungen hat. Sie würde erst handeln und dann nachdenken. Gerade wegen dieses Wesenszuges liebte er sie. Wäre sie anders, vernunftbetonter und weniger einfühlsam, würde ihm etwas unendlich Wertvolles fehlen. Trotzdem war dies Charaktermerkmal ein gewisser Schwachpunkt.
Obwohl der Papierstapel auf dem Tisch vor ihm dringend bearbeitet werden musste, waren seine Gedanken nach wie vor bei Charlotte.
Wo mochte sie sein? Auf welche Weise ließe sich ihr Aufenthaltsort feststellen, ohne dass er sie dadurch in Gefahr brachte? Wem konnte er bedingungslos vertrauen? Noch vor einer Woche hätte er Gower geschickt und ihm damit unwissentlich und ohne es zu wollen eine Geisel in die Hand gespielt, wie er sich keine bessere hätte wünschen können.
Sollte er Verbindung mit der Polizei in Dublin aufnehmen?
Vielleicht war es das Beste, wenn niemand dort wusste, wer sie war.
Er empfand eine geradezu schmerzliche Hilflosigkeit. Obwohl ihm der gesamte Apparat und sämtliche Mittel des Sicherheitsdienstes zur Verfügung standen, waren ihm die Hände gebunden, da er nicht wusste, wem er trauen durfte.
Es klopfte. Auf sein »Herein« trat Austwick mit weiteren Papieren ein. Er machte eine bedenkliche Miene.
Pitt war froh, in die Gegenwart zurückkehren zu müssen. » Was bringen Sie?«, fragte er.