Austwick setzte sich, ohne dazu aufgefordert worden zu sein. Unwillkürlich kam Pitt der Gedanke, dass er das bei Narraway kaum gewagt haben dürfte. Worauf sich die Überheblichkeit des Mannes wohl gründen mochte?
» Weitere Berichte aus Manchester«, gab Austwick zur Antwort. »Allmählich erweckt die Sache den Anschein, als ob Latimer in Bezug auf die Fabrik in Hyde Recht hat. Die Leute stellen Schusswaffen her, streiten es aber ab. Außerdem ist da die verkorkste Geschichte in Glasgow. Wir müssen die Sache genauer unter die Lupe nehmen, bevor da alles ganz aus dem Ruder läuft.«
»Im letzten Bericht hieß es, dass es da lediglich um junge Leute ging, die demonstrierten«, erinnerte ihn Pitt. »Narraway
Austwick verzog angewidert das Gesicht. »Ich nehme an, dass er sich da schon nicht mehr um die Interessen des Landes gekümmert hat. Leider wissen wir nicht, wann seine … Nachlässigkeit begann. Am besten lesen Sie den Bericht selbst. Ich habe die Sache seit seinem Ausscheiden bearbeitet und bin überzeugt, dass er sie in jeder Hinsicht falsch eingeschätzt hat. Außerdem können wir es uns nicht leisten, Schottland einfach zu ignorieren.«
Pitt schluckte die Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Er traute Austwick nicht, durfte ihm das aber nicht zeigen. Er hatte den Eindruck, mit dieser Sache nur Zeit zu vergeuden, von der er ohnehin zu wenig hatte.
» Was ist mit den Berichten über die Sozialisten auf dem Kontinent? «, erkundigte er sich. »Ist irgendetwas aus Deutschland gekommen? Und was ist mit den russischen Emigranten in Paris?«
»Nichts Wichtiges«, gab Austwick zurück. »Auch von Gower haben wir nicht das Geringste gehört.« Er sah Pitt mit erkennbarer Unruhe in den Augen an.
So gelassen er konnte, gab Pitt zurück: »Er wird sich vermutlich erst melden, wenn er etwas Bemerkenswertes zu berichten hat. Schließlich ist es nicht ungefährlich, von Saint Malo aus Kontakt mit Lisson Grove aufzunehmen. Immerhin geht da alles durch das örtliche Postamt.«
Austwick schüttelte den Kopf. »Offen gestanden halte ich die Sache für belanglos. Vielleicht hat man West nur deshalb umgebracht, weil die Leute dahintergekommen waren, dass er für uns arbeitete. Ich denke, dass es sich dabei um einen Racheakt gehandelt hat und der Mann uns gar nichts Wichtiges mitzuteilen hatte.«
Er veränderte seine Stellung ein wenig und sah Pitt offen an. »Sie wissen ja, dass seit Jahren Gerüchte über bedeutende
Pitt sah den Groll in den Augen des Mannes, während ihn dieser, vermutlich ganz bewusst, daran erinnerte, dass er noch nicht lange beim Sicherheitsdienst tätig war. Einen Augenblick lang fragte sich Pitt, ob gekränkte persönliche Eitelkeit dahintersteckte oder das Ganze mit der politischen Unruhe im Lande zusammenhing. Dann fiel ihm ein, wie sich Gower über den in seinem Blut am Boden liegenden West gebeugt hatte. Entweder hatte Austwick tatsächlich nichts mit der Sache zu tun, oder er verstand es, seine Empfindungen und Gedanken besser zu verbergen, als Pitt annahm. Er musste unbedingt auf der Hut sein.
»Vielleicht geht die Sache ja gut«, sagte er.
Austwick veränderte seine Stellung erneut, so, als sitze er unbequem. »Das hier sind die Berichte aus Liverpool. Sie enthalten Verweise auf die Lage in Irland. Zwar gibt es da bisher nichts Gefährliches, aber es dürfte sich empfehlen, dass wir uns einige der Namen notieren und die Leute im Auge behalten. « Er schob Pitt noch einige Papiere hin, und dieser beugte sich darüber, um sie zu lesen.
Der Nachmittag verlief wie der Vormittag, und weitere mündliche sowie schriftliche Berichte landeten auf Pitts Schreibtisch. Ein Fall von Gewalttätigkeit in einer Stadt in Yorkshire schien auf den ersten Blick einen politischen Hintergrund zu haben, doch dann erwies sich, dass nichts daran war. In London war in Piccadilly auf der Straße ein Minister ausgeraubt worden, der als geheim eingestufte Papiere mit sich geführt
Er ging dabei mit äußerster Sorgfalt vor, befragte den Mann persönlich, versuchte festzustellen, ob er gewusst hatte, dass es sich bei seinem Opfer um ein Kabinettsmitglied handelte, und falls ja, ob ihm bekannt gewesen war, dass sich in dessen Aktentasche unter Umständen der Geheimhaltung unterliegende Dokumente befanden. Auch nach mehreren Stunden war er seiner Sache noch nicht sicher. Er musste daran denken, dass Narraway bestimmt niemanden um Rat gefragt hätte. Wenn er einen solchen Fall nicht ohne Hilfe bearbeiten konnte, war er seinem Amt alles andere als gewachsen.
Schließlich kam er zu dem Ergebnis, dass man die Öffentlichkeit nicht wissen lassen durfte, wie einfach es war, einen unaufmerksamen Minister zu bestehlen, und so entschied er sich, Anklage wegen eines geringfügigeren Vergehens erheben zu lassen, statt auf dem Anklagepunkt »Ausspähen von Staatsgeheimnissen« zu beharren.
Am Abend kehrte er müde und mit dem Gefühl, wenig geleistet zu haben, nach Hause zurück. Doch alle Niedergeschlagenheit und Mattigkeit verflogen in dem Augenblick, als er die Haustür öffnete und ihm Daniel durch die Diele entgegengerannt kam. »Papa, Papa, ich hab ein Schiff gemacht! Komm mit und sieh es dir an!« Er fasste seinen Vater an der Hand und zog ihn mit sich.
Lächelnd folgte er dem Jungen bereitwillig in die Küche, aus der es verlockend duftete. In einer großen Kasserolle auf dem Herd brodelte etwas, und auf dem Küchentisch war inmitten von zerfetztem Zeitungspapier eine Schüssel mit einer
Minnie Maude sah Pitt verlegen an. Offensichtlich hatte sie ihn später erwartet.
»Sieh mal!«, sagte Daniel begeistert und wies auf das Schiff. »Minnie Maude hat mir gezeigt, wie man das macht.« Achselzuckend fügte er hinzu: »Und Jemima hat mir ein bisschen … na ja … ziemlich viel geholfen.«
Mit einem Mal erfüllte Pitt ein tiefes Gefühl der Wärme. Er sah auf Daniels vor Stolz strahlendes Gesicht und dann auf das Schiff.
»Es ist großartig«, sagte er mit vor Rührung beinahe erstickter Stimme. »Ich habe noch nie so ein schönes Schiff gesehen.« Dann wandte er sich Minnie Maude zu, die ganz offensichtlich damit rechnete, getadelt zu werden, weil sie gespielt hatte, wo sie eigentlich das Abendessen rechtzeitig hätte auf den Tisch bringen sollen.
»Danke«, sagte er aufrichtig. »Stellen Sie es bitte erst weg, wenn sicher ist, dass es dabei nicht zu Schaden kommen kann.«
» Was … was is mi’m Ab’ndess’n, Sir?«, fragte sie und atmete erleichtert auf.
»Wir räumen das Zeitungspapier und die Masse weg und essen um das Schiff herum«, sagte er. »Wo ist Jemima?«
»Die liest«, gab Daniel sofort zur Antwort. »Sie hat mein Neues Universum genommen. Warum liest sie eigentlich keine Mädchenbücher?«
»Weil die langweilig sind«, ertönte von der Tür die Stimme seiner Schwester, die ungehört hereingekommen war. An Pitt
»Ja«, sagte er, legte ihr den Arm um die Schulter und fuhr fort: »Es ist einfach großartig.«
»Wie geht es Mama?«, fragte sie mit besorgter Stimme.
»Gut«, gab er im vollen Bewusstsein dessen zurück, dass er die Unwahrheit sagte, und drückte sie ein wenig fester an sich. »Sie hilft einem Freund, der in Schwierigkeiten ist, kommt aber bald wieder. Jetzt wollen wir den Tisch abräumen und essen.«
Als es später im Hause still wurde, setzte er sich allein im Wohnzimmer in einen Sessel. Daniel und Jemima waren zu Bett gegangen, auch Minnie Maude hatte ihr Zimmer aufgesucht, nachdem sie in der Küche Ordnung geschaffen hatte. Im Hause war es so still, dass Pitt jede einzelne Treppenstufe hatte knarren hören. Dass er jetzt weder Geräusche noch Bewegungen im Hause wahrnahm, war alles andere als trostreich und erfüllte ihn erneut mit Gedanken, die ihm wie Nebelschwaden durch den Kopf wirbelten. Tiefe Schatten umgaben die Lichtinseln um die Lampen an der Wand. Er kannte jede einzelne Oberfläche in dem Raum und wusste, dass alles so peinlich sauber war, als sei Charlotte im Hause gewesen, um das neue Mädchen zu überwachen, dessen einziger Fehler es war, nicht Gracie zu sein. Doch, sie war wirklich gut, ihr fehlte lediglich das Altvertraute. Der Gedanke an das Pappmaché-Schiff zauberte ein Lächeln auf Pitts Züge. Das war nichts Banales, sondern sehr wichtig. Mit Minnie Maude Mudway hatten sie ganz offensichtlich einen Treffer gelandet.