Austwick stand wie gelähmt.
Als sich Pitt daranmachte, die Treppe emporzusteigen, kam ein weiterer Mann mit schussbereiter Waffe aus dem Dienstbotentrakt. In diesem Augenblick tauchte Narraway auf dem Treppenabsatz auf und versetzte ihm einen so heftigen Hieb, dass er mit dem Gesicht voran die Treppe hinabstürzte, wobei er seine Waffe losließ. Mit gebrochenem Genick blieb er am Fuß der Treppe liegen.
Der Mann im Vestibül hob die Waffe auf und richtete sie auf Pitt. Austwick, der das wohl nicht gesehen hatte, trat vor ihn, und im selben Augenblick hallte ein Schuss, woraufhin Austwick langsam zu Boden sank, wo sich eine riesige Blutlache bildete.
Stoker feuerte auf den Mann, der geschossen hatte.
Jetzt kam Narraway nach unten und nahm dem am Boden liegenden Mann die Waffe ab.
»Es sind noch fünf weitere da«, sagte er gelassen. » Wir wollen zusehen, ob wir sie ohne weiteres Blutvergießen festnehmen können.«
Pitt sah Narraway an. Zwar schien dieser vollständig Herr der Lage zu sein, doch sah er elend aus, und seine Augen lagen tief in ihren Höhlen. Seine Stimme klang, als müsse er sie mit aller ihm zu Gebote stehenden Willenskraft beherrschen.
Pitt wandte den Blick zu Stoker und nickte ihm zu.
»Ja, Sir«, sagte dieser gehorsam und machte sich auf den Weg zum Dienstbotentrakt.
Narraway sah Pitt an. Auf seine Züge trat ein leichtes Lächeln, doch in seinen Augen lag eine Wärme, die Pitt dort noch nie gesehen hatte, nicht einmal bei ihren größten Triumphen. » Wollen Sie nach oben gehen und Ihrer Majestät mitteilen, dass die Ordnung wiederhergestellt ist?«, fragte er. »Sie braucht keine Papiere zu unterzeichnen.«
»Geht es Ihnen … gut ?«, fragte Pitt. Er merkte überrascht, wie sehr ihm daran lag.
»Ja, vielen Dank«, gab Narraway zurück. »Aber noch ist die ganze Sache nicht ausgestanden. Ist der da am Boden etwa Charles Austwick?«
»Ja. Ich denke, es dürfte für alle das Beste sein, wenn wir sagen, dass er sein Leben für unser Land gegeben hat.«
»Er hat also an der Spitze dieser verdammten Verschwörung gestanden«, stieß Narraway zwischen den Zähnen hervor.
»Eigentlich nicht«, teilte ihm Pitt mit. »Der wirkliche Verräter saß in Westminster. Die treibende Kraft war Croxdale.«
Verblüfft sah ihn Narraway an. »Sind Sie sicher?«
»Ganz und gar. Er hat es mehr oder weniger selbst zugegeben.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Tot. Ich denke, wir sagen, dass er sich das Leben genommen hat.« Pitt merkte, dass er am ganzen Leibe zitterte. Er versuchte es zu unterdrücken, doch gelang es ihm nicht.
»Es stimmt also nicht?«
»Ich habe ihn erschossen. Er stand im Begriff, Stoker das Genick zu brechen.« Pitt ging weiter nach oben, an Narraway vorüber.
»Ich verstehe«, sagte dieser langsam. Er lächelte zufrieden. »Da hat Croxdale Sie wohl unterschätzt, was?«
Pitt merkte, dass er errötete. Peinlich berührt, wandte er sich ab und ging weiter nach oben. Dort klopfte er an die Tür zum großen Salon.
»Herein«, gebot eine leise Stimme.
Er drehte den Knauf und trat ein. Die Königin stand mitten im Raum zwischen Charlotte und Lady Vespasia. Beim Anblick der Gruppe übermannte Pitt die Rührung so sehr, dass ihm die Tränen in die Augen traten. Seine Kehle war wie zugeschnürt, so dass er kaum herausbrachte, was er sagen wollte.
»Eure Majestät.« Er räusperte sich. »Es freut mich, Ihnen mitteilen zu können, dass sich Osborne House aufs Neue in den Händen derer befindet, denen es gehört. Es wird keine weiteren Schwierigkeiten geben. Trotzdem würde ich empfehlen, sich einstweilen weiter in diesem Raum aufzuhalten, weil noch dies und jenes aufgeräumt werden muss.«
Lady Vespasias Gesicht strahlte vor Erleichterung. Alle Mattigkeit war von ihr abgefallen.
Charlotte lächelte ihm zu, zu glücklich und zu stolz, als dass sie auch nur ein Wort hätte sagen können.
»Danke, Mr Pitt«, sagte Königin Viktoria mit leicht heiser klingender Stimme. » Wir sind Ihnen zu großem Dank verpflichtet und werden das nicht vergessen.«