Es war nicht der erste KZ-Prozeß und keiner der großen. Der Professor, einer der wenigen, die damals über die Nazi-Vergangenheit und die einschlägigen Gerichtsverfahren arbeiteten, hatte ihn zum Gegenstand eines Seminars gemacht, weil er hoffte, ihn mit Hilfe von Studenten über die ganze Dauer verfolgen und auswerten zu können. Ich weiß nicht mehr, was er überprüfen, bestätigen oder widerlegen wollte. Ich erinnere mich, daß im Seminar über das Verbot rückwirkender Bestrafung diskutiert wurde. Genügt es, daß der Paragraph, nach dem die KZ-Wächter und -Schergen verurteilt werden, schon zur Zeit ihrer Taten im Strafgesetzbuch stand, oder kommt es darauf an, wie er zur Zeit ihrer Taten verstanden und angewandt und daß er damals eben nicht auf sie bezogen wurde? Was ist das Recht? Was im Buch steht oder was in der Gesellschaft tatsächlich durchgesetzt und befolgt wird? Oder ist Recht, was, ob es im Buch steht oder nicht, durchgesetzt und befolgt werden müßte, wenn alles mit rechten Dingen zuginge? Der Professor, ein alter Herr, aus der Emigration zurückgekehrt, aber in der deutschen Rechtswissenschaft ein Außenseiter geblieben, nahm an diesen Diskussionen mit all seiner Gelehrsamkeit und zugleich mit der Distanz dessen teil, der für die Lösung eines Problems nicht mehr auf Gelehrsamkeit setzt. »Sehen Sie sich die Angeklagten an — Sie werden keinen finden, der wirklich meint, er habe damals morden dürfen.«
Das Seminar begann im Winter, die Gerichtsverhandlung im Frühjahr. Sie zog sich über viele Wochen hin. Verhandelt wurde montags bis donnerstags, und für jeden dieser vier Tage hatte der Professor eine Gruppe von Studenten eingeteilt, die ein wörtliches Protokoll führten. Am Freitag war Seminarsitzung und wurden die Ereignisse der vergangenen Woche aufgearbeitet.
Aufarbeitung! Aufarbeitung der Vergangenheit! Wir Studenten des Seminars sahen uns als Avantgarde der Aufarbeitung. Wir rissen die Fenster auf, ließen die Luft herein, den Wind, der endlich den Staub aufwirbelte, den die Gesellschaft über die Furchtbarkeiten der Vergangenheit hatte sinken lassen. Wir sorgten dafür, daß man atmen und sehen konnte. Auch wir setzten nicht auf juristische Gelehrsamkeit. Daß verurteilt werden müsse, stand für uns fest. Ebenso fest stand für uns, daß es nur vordergründig um die Verurteilung dieses oder jenes KZ-Wächters und -Schergen ging. Die Generation, die sich der Wächter und Schergen bedient oder sie nicht gehindert oder sie nicht wenigstens ausgestoßen hatte, als sie sie nach 1945 hätte ausstoßen können, stand vor Gericht, und wir verurteilten sie in einem Verfahren der Aufarbeitung und Aufklärung zu Scham.
Unsere Eltern hatten im Dritten Reich ganz verschiedene Rollen gespielt. Manche Väter waren im Krieg gewesen, darunter zwei oder drei Offiziere der Wehrmacht und ein Offizier der Waffen-SS, einige hatten Karrieren in Justiz und Verwaltung gemacht, wir hatten Lehrer und Ärzte unter unseren Eltern, und einer hatte einen Onkel, der hoher Beamter beim Reichsminister des Inneren gewesen war. Ich bin sicher, daß sie, soweit wir sie gefragt und sie uns geantwortet haben, ganz Verschiedenes mitzuteilen hatten. Mein Vater wollte nicht über sich reden. Aber ich wußte, daß er seine Stelle als Dozent der Philosophie wegen der Ankündigung einer Vorlesung über Spinoza verloren und sich und uns als Lektor eines Verlags für Wanderkarten und -bücher durch den Krieg gebracht hatte. Wie kam ich dazu, ihn zu Scham zu verurteilen? Aber ich tat es. Wir alle verurteilten unsere Eltern zu Scham, und wenn wir sie nur anklagen konnten, die Täter nach 1945 bei sich, unter sich geduldet zu haben.
Wir Studenten des Seminars entwickelten eine starke Gruppenidentität. Wir vom KZ-Seminar — zunächst nannten die anderen Studenten es so und bald auch wir selbst. Was wir machten, interessierte die anderen nicht; es befremdete viele, stieß manche geradezu ab. Ich denke jetzt, daß der Eifer, mit dem wir Furchtbarkeiten zur Kenntnis nahmen und anderen zur Kenntnis bringen wollten, tatsächlich abstoßend war. Je furchtbarer die Ereignisse waren, über die wir lasen und hörten, desto gewisser wurden wir unseres aufklärerischen und anklägerischen Auftrags. Auch wenn die Ereignisse uns den Atem stocken ließen — wir hielten sie triumphierend hoch. Seht her!
Ich hatte mich aus schlichter Neugier zum Seminar gemeldet. Es war einmal etwas anderes, nicht Kaufrecht und nicht Täterschaft und Teilnahme, nicht Sachsenspiegel und keine rechtsphilosophischen Altertümer. Das großspurige, überlegene Gehabe, das ich mir angewöhnt hatte, habe ich auch in das Seminar mitgebracht. Aber im Laufe des Winters konnte ich mich immer weniger entziehen — nicht den Ereignissen, über die wir lasen und hörten, und nicht dem Eifer, der die Studenten des Seminars ergriff. Zunächst machte ich mir vor, ich wolle nur den wissenschaftlichen oder auch den politischen und den moralischen Eifer teilen. Aber ich wollte mehr, ich wollte das gemeinsame Eifern teilen. Die anderen mögen mich immer noch als distanziert und arrogant empfunden haben. Ich selbst hatte während der Wintermonate das gute Gefühl, dazuzugehören und mit mir und dem, was ich tat, und denen, mit denen ich's tat, im reinen zu sein.
3
Die Gerichtsverhandlung war in einer anderen Stadt, mit dem Auto eine knappe Stunde entfernt. Ich hatte dort sonst nie zu tun. Ein anderer Student fuhr. Er war dort aufgewachsen und kannte sich aus.
Es war Donnerstag. Die Gerichtsverhandlung hatte am Montag begonnen. Die ersten drei Verhandlungstage waren mit Befangenheitsanträgen der Verteidiger vergangen. Wir waren die vierte Gruppe, die mit der Vernehmung der Angeklagten zur Person den eigentlichen Beginn der Verhandlung erleben würde.
Unter blühenden Obstbäumen fuhren wir die Bergstraße entlang. Wir waren in gehobener, beschwingter Stimmung; endlich konnten wir bewähren, worauf wir uns vorbereitet hatten. Wir fühlten uns nicht als bloße Zuschauer, Zuhörer und Protokollanten. Zuschauen, Zuhören und Protokollieren waren unsere Beiträge zur Aufarbeitung.
DasGerichtwareinBauderJahrhundertwende,aberohne den Pomp und die Düsternis, die damalige Gerichtsbauten oft zeigen. Der Saal, in dem das Schwurgericht tagte, hatte links eine Reihe großer Fenster, deren Milchglas den Blick nach draußen verwehrte, aber viel Licht hereinließ. Vor den Fenstern saßen die Staatsanwälte, an hellen Frühling- und Sommertagen nur in den Umrissen erkennbar. Das Gericht, drei Richter in schwarzen Roben und sechs Schöffen, saß an der Stirn des Saals, und rechts war die Bank der Angeklagten und Verteidiger, wegen der großen Zahl mit Tischen und Stühlen bis in die Mitte des Saals vor die Reihen des Publikums verlängert. Einige Angeklagte und Verteidiger saßen mit dem Rücken zu uns. Hanna saß mit dem Rücken zu uns. Ich erkannte sie erst, als sie aufgerufen wurde, aufstand und nach vorne trat. Natürlich erkannte ich sofort den Namen: Hanna Schmitz. Dann erkannte ich auch die Gestalt, den Kopf fremd mit zum Knoten geschlungenen Haaren, den Nacken, den breiten Rücken und die kräftigen Arme. Sie hielt sich gerade. Sie stand fest auf beiden Beinen. Sie ließ ihre Arme locker hängen. Sie trug ein graues Kleid mit kurzen Ärmeln. Ich erkannte sie, aber ich fühlte nichts. Ich fühlte nichts.
Ja, sie wolle stehen. Ja, sie sei am 21. Oktober 1922 bei Hermannstadt geboren worden und jetzt dreiundvierzig Jahre alt. Ja, sie habe in Berlin bei Siemens gearbeitet und sei im Herbst 1943 zur SS gegangen.
»Sie sind freiwillig zur SS gegangen?«
»Ja.«
»Warum?«
Hanna antwortete nicht.
»Stimmt es, daß Sie zur SS gegangen sind, obwohl Ihnen bei Siemens eine Stelle als Vorarbeiterin angeboten worden war?«
Hannas Verteidiger sprang auf. »Was heißt hier >obwohl<? Was soll die Unterstellung, eine Frau hätte lieber bei Siemens Vorarbeiterin zu werden als zur SS zu gehen? Nichts rechtfertigt es, die Entscheidung meiner Mandantin zum Gegenstand einer solchen Frage zu machen.«
Er setzte sich. Er war der einzige junge Verteidiger, die anderen waren alt, einige, wie sich bald zeigte, alte Nazis. Hannas Verteidiger vermied deren Jargon und Thesen. Aber er war von einem hastigen Eifer, der seiner Mandantin ebenso schadete wie die nationalsozialistischen Tiraden seiner Kollegen deren Mandantinnen. Er erreichte zwar, daß der Vorsitzende irritiert schaute und die Frage, warum Hanna zur SS gegangen war, nicht weiterverfolgte. Aber es blieb der Eindruck, daß sie es mit Bedacht und ohne Not getan hatte. Daß ein Beisitzender Hanna fragte, was für eine Arbeit sie bei der SS erwartet habe, und daß Hanna erklärte, die SS habe bei Siemens, aber auch in anderen Betrieben Frauen für den Einsatz im Wachdienst geworben, dafür habe sie sich gemeldet und dafür sei sie eingestellt worden, änderte am negativen Eindruck nichts mehr.