Der Vorsitzende ließ sich von Hanna einsilbig bestätigen, daß sie bis Frühjahr 1944 in Auschwitz und bis Winter 1944/1945 in einem kleinen Lager bei Krakau eingesetzt war, daß sie mit den Gefangenen nach Westen aufgebrochen und dort auch angekommen war, daß sie bei Kriegsende in Kassel gewesen war und seitdem hier und dort gelebt hatte. Acht Jahre hatte sie in meiner Heimatstadt gewohnt; es war die längste Zeit, die sie an ein und demselben Ort verbracht hatte.
»Soll der häufige Wechsel des Wohnorts die Fluchtgefahr begründen?« Der Anwalt zeigte offen seine Ironie.
»Meine Mandantin hat sich bei jedem Wohnortwechsel polizeilich ab- und angemeldet. Nichts spricht dafür, daß sie fliehen, nichts gibt es, was sie verdunkeln könnte. Erschien es dem Haftrichter angesichts der Schwere der vorgeworfenen Tat und angesichts der Gefahr öffentlicher Erregung nicht erträglich, meine Mandantin in Freiheit zu lassen? Das, hohes Gericht, ist ein Nazi-Haftgrund; er ist von den Nazis eingeführt und nach den Nazis wieder beseitigt worden. Es gibt ihn nicht mehr.« Der Anwalt redete mit dem maliziösen Behagen, mit dem jemand eine pikante Wahrheit präsentiert.
Ich erschrak. Ich merkte, daß ich Hannas Haft als natürlich und richtig empfunden hatte. Nicht wegen der Anklage, der Schwere des Vorwurfs und der Stärke des Verdachts, wovon ich noch gar nichts Genaues wußte, sondern weil sie in der Zelle raus aus meiner Welt, raus aus meinem Leben war. Ich wollte sie weit weg von mir haben, so unerreichbar, daß sie die bloße Erinnerung bleiben konnte, die sie in den vergangenen Jahren für mich geworden und gewesen war. Wenn der Anwalt Erfolg hätte, würde ich gewärtigen müssen, ihr zu begegnen, und ich würde mir klarwerden müssen, wie ich ihr begegnen wollte und sollte. Und ich sah nicht, wie er keinen Erfolg haben könnte. Wenn Hanna bisher nicht zu fliehen versucht hatte, warum sollte sie es jetzt versuchen? Und was konnte sie verdunkeln? Andere Haftgründe gab es damals nicht.
Der Vorsitzende wirkte wieder irritiert, und ich begann zu begreifen, daß das seine Masche war. Wann immer er eine Äußerung für obstruktiv und ärgerlich hielt, setzte er die Brille ab, betastete den Äußernden mit kurzsichtigem, unsicherem Blick, runzelte die Stirn und überging entweder die Äußerung, oder er begann mit »Sie meinen also« oder »Sie wollen also sagen« und wiederholte die Äußerung in einer Weise, die keinen Zweifel daran ließ, daß er nicht gewillt war, sich mit ihr zu beschäftigen, und daß es keinen Zweck hatte, ihn dazu zu drängen.
»Sie meinen also, der Haftrichter hat dem Umstand, daß die Angeklagte auf kein Schreiben und keine Ladung reagiert hat, nicht vor der Polizei, nicht vor dem Staatsanwalt und nicht vor dem Richter erschienen ist, eine falsche Bedeutung zugemessen? Sie wollen einen Antrag auf Aufhebung des Haftbefehls stellen?«
Der Anwalt stellte den Antrag, und das Gericht lehnte den Antrag ab.
4
Ich habe keinen Tag der Gerichtsverhandlung ausgelassen. Die anderen Studenten wunderten sich. Der Professor begrüßte, daß einer von uns dafür sorgte, daß die nächste Gruppe erfuhr, was die letzte gehört und gesehen hatte.
Nur einmal sah Hanna ins Publikum und zu mir hin. Sonst wandte sie den Blick an allen Verhandlungstagen zur Gerichtsbank, wenn sie von einer Wachtmeisterin hereingeführt wurde und wenn sie ihren Platz eingenommen hatte. Das wirkte hochmütig, und hochmütig wirkte auch, daß sie nicht mit den anderen Angeklagten und kaum mit ihrem Anwalt sprach. Die anderen Angeklagten redeten miteinander allerdings desto weniger, je länger die Gerichtsverhandlung dauerte. Sie standen in den Verhandlungspausen mit Verwandten und Freunden zusammen, winkten und riefen ihnen zu, wenn sie sie morgens im Publikum sahen. Hanna blieb in den Verhandlungspausen an ihrem Platz sitzen.
So sah ich sie von hinten. Ich sah ihren Kopf, ihren Nacken, ihre Schultern. Ich las ihren Kopf, ihren Nacken, ihre Schultern. Wenn es um sie ging, hielt sie den Kopf besonders hoch. Wenn sie sich ungerecht behandelt, verleumdet, angegriffen fühlte und um eine Erwiderung rang, rollte sie die Schultern nach vorne, und der Nacken schwoll, ließ die Muskelstränge stärker heraus- und hervortreten. Die Erwiderungen mißlangen regelmäßig, und regelmäßig sanken die Schultern herab. Sie zuckte nie mit den Schultern, schüttelte auch nie den Kopf. Sie war zu angespannt, als daß sie sich die Leichtigkeit eines Schulterzuckens oder Kopfschüttelns erlaubt hätte. Sie erlaubte sich auch nicht, den Kopf schief zu halten, sinken zu lassen oder aufzustützen. Sie saß wie gefroren. So sitzen mußte weh tun.
Manchmal stahlen sich Haarsträhnen aus dem straffen Knoten, kräuselten sich, hingen auf den Nacken herab und strichen im Luftzug über ihn hin. Manchmal trug Hanna ein Kleid, dessen Ausschnitt weit genug war, um das Muttermal an der linken oberen Schulter zu zeigen. Dann erinnerte ich mich, wie ich die Haare von diesem Nacken gepustet und wie ich dieses Muttermal und diesen Nacken geküßt hatte. Aber das Erinnern war ein Registrieren. Ich fühlte nichts.
Während der wochenlangen Gerichtsverhandlung fühlte ich nichts, war mein Gefühl wie betäubt. Ich provozierte es gelegentlich, stellte mir Hanna bei dem, was ihr vorgeworfen wurde, so deutlich vor, wie ich nur konnte, und auch bei dem, was mir das Haar auf ihrem Nacken und das Muttermal auf ihrer Schulter in Erinnerung riefen. Es war, wie wenn die Hand den Arm kneift, der von der Spritze taub ist. Der Arm weiß nicht, daß er von der Hand gekniffen wird, die Hand weiß, daß sie den Arm kneift, und das Gehirn hält beides im ersten Moment nicht auseinander. Aber im zweiten unterscheidet es wieder genau. Vielleicht hat die Hand so fest gekniffen, daß diese Stelle eine Weile lang blaß ist. Dann kehrt das Blut zurück, und die Stelle kriegt wieder Farbe. Aber das Gefühl kehrt darum noch nicht zurück.
Wer hatte mir die Spritze gegeben? Ich mir selbst, weil ich es ohne Betäubung nicht ausgehalten hätte? Die Betäubung wirkte nicht nur im Gerichtssaal und nicht nur so, daß ich Hanna erleben konnte, als sei es ein anderer, der sie geliebt und begehrt hatte, jemand, den ich gut kannte, der aber nicht ich war. Ich stand auch bei allem anderen neben mir und sah mir zu, sah mich in der Universität, mit Eltern und Geschwistern, mit den Freunden funktionieren, war aber innerlich nicht beteiligt.
Nach einer Weile meinte ich, ein ähnliches Betäubtsein auch bei anderen beobachten zu können. Nicht bei den Anwälten, die während der ganzen Verhandlung von derselben polternden, rechthaberischen Streitsucht, pedantischen Schärfe oder auch lärmenden, kaltschnäuzigen Unverschämtheit waren, je nach persönlichem und politischem Temperament. Zwar erschöpfte die Verhandlung sie; am Abend waren sie müder oder auch schriller. Aber über Nacht hatten sie sich wieder aufgeladen oder aufgeblasen und dröhnten und zischten am nächsten Morgen wie am Morgen zuvor. Die Staatsanwälte versuchten mitzuhalten und ebenfalls Tag um Tag denselben kämpferischen Einsatz zu zeigen. Aber es gelang ihnen nicht, zunächst nicht, weil die Gegenstände und die Ergebnisse der Verhandlung sie zu sehr entsetzten, dann, weil die Betäubung zu wirken begann. Am stärksten wirkte sie bei den Richtern und Schöffen. In den ersten Verhandlungswochen nahmen sie die Schrecklichkeiten, die manchmal unter Tränen, manchmal mit versagender Stimme, manchmal gehetzt oder verstört berichtet und bestätigt wurden, mit sichtbarer Erschütterung oder auch mühsamer Fassung zur Kenntnis. Später wurden die Gesichter wieder normal, konnten einander lächelnd eine Bemerkung zuflüstern oder auch einen Hauch von Ungeduld zeigen, wenn ein Zeuge vom Hölzchen aufs Stöckchen kam. Als in der Verhandlung eine Reise nach Israel besprochen wurde, wo eine Zeugin vernommen werden sollte, kam Reisefreude auf. Stets aufs neue entsetzt waren die anderen Studenten. Sie kamen jede Woche nur einmal zur Verhandlung, und jedesmal vollzog er sich erneut: der Einbruch des Schrecklichen in den Alltag. Ich, Tag um Tag bei der Verhandlung dabei, beobachtete ihre Reaktion mit Distanz.