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Wie der KZ-Häftling, der Monat um Monat überlebt und sich gewöhnt hat und das Entsetzen der neu Ankommenden gleichmütig registriert. Mit derselben Betäubung registriert, mit der er das Morden und Sterben selbst wahrnimmt. Alle Literatur der Überlebenden berichtet von dieser Betäubung, unter der die Funktionen des Lebens reduziert, das Verhalten teilnahms- und rücksichtslos und Vergasung und Verbrennung alltäglich wurden. Auch in den spärlichen Äußerungen der Täter begegnen die Gaskammern und Verbrennungsöfen als alltägliche Umwelt, die Täter selbst auf wenige Funktionen reduziert, in ihrer Rücksichts- und Teilnahmslosigkeit, ihrer Stumpfheit wie betäubt oder betrunken. Die Angeklagten kamen mir vor, als seien sie noch immer und für immer in dieser Betäubung befangen, in ihr gewissermaßen versteinert.

Schon damals, als mich diese Gemeinsamkeit des Betäubtseins beschäftigte und auch, daß die Betäubung sich nicht nur auf Täter und Opfer gelegt hatte, sondern auch auf uns legte, die wir als Richter oder Schöffen, Staatsanwälte oder Protokollanten später damit zu tun hatten, als ich dabei Täter, Opfer, Tote, Lebende, Überlebende und Nachlebende miteinander verglich, war mir nicht wohl, und wohl ist mir auch jetzt nicht. Darf man derart vergleichen? Wenn ich in einem Gespräch Ansätze eines solchen Vergleichs machte, betonte ich zwar stets, daß der Vergleich den Unterschied, ob man in die Welt des KZ gezwungen wurde oder sich in sie begeben hatte, ob man gelitten oder Leiden zugefügt hatte, nicht relativiere, daß der Unterschied vielmehr von der allergrößten, alles entscheidenden Wichtigkeit sei. Aber ich stieß selbst dann auf Befremden oder Empörung, wenn ich dies nicht erst in Reaktion auf die Einwände der anderen ausführte, sondern noch ehe die anderen etwas einwenden konnten.

Zugleich frage ich mich und habe mich schon damals zu fragen begonnen: Was sollte und soll meine Generation der Nachlebenden eigentlich mit den Informationen über die Furchtbarkeiten der Vernichtung der Juden anfangen? Wir sollen nicht meinen, begreifen zu können, was unbegreiflich ist, dürfen nicht vergleichen, was unvergleichlich ist, dürfen nicht nachfragen, weil der Nachfragende die Furchtbarkeiten, auch wenn er sie nicht in Frage stellt, doch zum Gegenstand der Kommunikation macht und nicht als etwas nimmt, vor dem er nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen kann. Sollen wir nur in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen? Zu welchem Ende? Nicht daß sich der Aufarbeitungs- und Aufklärungseifer, mit dem ich am Seminar teilgenommen hatte, in der Verhandlung einfach verloren hätte. Aber daß einige wenige verurteilt und bestraft und daß wir, die nachfolgende Generation, in Entsetzen, Scham und Schuld verstummen würden — das sollte es sein?

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In der zweiten Woche wurde die Anklage verlesen. Die Verlesung dauerte eineinhalb Tage — eineinhalb Tage Konjunktiv. Die Angeklagte zu eins habe., sie habe ferner., weiter habe sie., dadurch habe sie den Tatbestand des Paragraphen soundsoviel erfüllt, ferner habe sie diesen Tatbestand und jenen Tatbestand.. sie habe auch rechtswidrig und schuldhaft gehandelt. Hanna war die Angeklagte zu vier.

Die fünf angeklagten Frauen waren Aufseherinnen in einem kleinen Lager bei Krakau gewesen, einem Außenlager von Auschwitz. Sie waren im Frühjahr 1944 von Auschwitz dorthin versetzt worden; sie ersetzten Aufseherinnen, die bei einer Explosion in der Fabrik getötet oder verletzt worden waren, in der die Frauen des Lagers arbeiteten. Ein Anklagepunkt galt ihrem Verhalten in Auschwitz, trat aber hinter den anderen Anklagepunkten zurück. Ich weiß ihn nicht mehr. Betraf er gar nicht Hanna, sondern nur die anderen Frauen? War er von geringer Bedeutung, im Vergleich mit den anderen Anklagepunkten oder auch für sich? Erschien es einfach unerträglich, jemanden, der in Auschwitz gewesen und dessen man habhaft war, nicht wegen seines Verhaltens in Auschwitz anzuklagen?

Natürlich hatten die fünf Angeklagten das Lager nicht geführt. Es gab einen Kommandanten, Wachmannschaften und weitere Aufseherinnen. Die meisten Wachmannschaften und Aufseherinnen hatten die Bomben nicht überlebt, die eines Nachts den Zug der Gefangenen nach Westen beendeten. Einige hatten sich in derselben Nacht abgesetzt und waren ebenso unauffindbar wie der Kommandant, der sich schon davongemacht hatte, als der Zug nach Westen aufbrach.

Von den Gefangenen hatte eigentlich keine die Nacht der Bomben überleben sollen. Aber es gab doch zwei Überlebende, Mutter und Tochter, und die Tochter hatte ein Buch über das Lager und den Zug nach Westen geschrieben und in Amerika veröffentlicht. Polizei und Staatsanwaltschaft hatten nicht nur die fünf Angeklagten, sondern auch einige Zeugen aufgespürt, die in dem Dorf gelebt hatten, in dem die Bomben den Zug der Gefangenen nach Westen beendeten. Die wichtigsten Zeugen waren die Tochter, die nach Deutschland gekommen, und die Mutter, die in Israel geblieben war. Zur Vernehmung der Mutter fuhren Gericht, Staatsanwälte und Verteidiger nach Israel — der einzige Abschnitt der Verhandlung, den ich nicht miterlebt habe.

Der eine Hauptanklagepunkt galt den Selektionen im Lager. Jeden Monat wurden aus Auschwitz rund sechzig neue Frauen geschickt und waren ebenso viele nach Auschwitz zurückzuschicken, abzüglich derer, die in der Zwischenzeit gestorben waren. Allen war klar, daß die Frauen in Auschwitz umgebracht wurden; es wurden die zurückgeschickt, die bei der Arbeit in der Fabrik nicht mehr eingesetzt werden konnten. Es war eine Munitionsfabrik, in der zwar die eigentliche Arbeit nicht schwer war, in der die Frauen aber zur eigentlichen Arbeit kaum kamen, sondern bauen mußten, weil die Explosion im Frühjahr schlimme Schäden hinterlassen hatte.

Der andere Hauptanklagepunkt galt der Bombennacht, mit der alles zu Ende ging. Die Wachmannschaften und Aufseherinnen hatten die Gefangenen, mehrere hundert Frauen, in die Kirche eines Dorfs gesperrt, das von den meisten Einwohnern verlassen worden war. Es fielen nur ein paar Bomben, vielleicht für eine nahe Eisenbahnlinie gedacht oder eine Fabrikanlage oder auch nur abgeworfen, weil sie von einem Angriff auf eine größere Stadt übrig waren. Die eine traf das Pfarrhaus, in dem die Wachmannschaften und Aufseherinnen schliefen. Eine andere schlug in den Kirchturm ein. Zuerst brannte der Turm, dann das Dach, dann stürzte das Gebälk lodernd in den Kirchenraum hinab, und das Gestühl fing Feuer. Die schweren Türen hielten stand. Die Angeklagten hätten sie aufschließen können. Sie taten es nicht, und die in der Kirche eingeschlossenen Frauen verbrannten.

6

Für Hanna hätte die Verhandlung nicht schlechter laufen können. Schon bei ihrer Vernehmung zur Person hatte sie auf das Gericht keinen guten Eindruck gemacht. Nach der Verlesung der Anklage meldete sie sich, weil etwas nicht stimme; der Vorsitzende Richter wies sie irritiert zurecht, vor Eröffnung des Hauptverfahrens habe sie die Anklage lange genug studieren und ihre Einwendungen erheben können, jetzt sei man in der Hauptverhandlung, und was an der Anklage stimme und nicht stimme, werde die Beweisaufnahme zeigen. Als zu Beginn der Beweisaufnahme der Vorsitzende Richter vorschlug, auf die Verlesung der deutschen Fassung des Buchs der Tochter zu verzichten, da sie, von einem deutschen Verlag zur Veröffentlichung vorbereitet, allen Beteiligten im Manuskript zugänglich gemacht worden war, mußte Hanna von ihrem Anwalt unter dem irritierten Blick des Vorsitzenden Richters dazu überredet werden, sich einverstanden zu erklären. Sie wollte nicht. Sie wollte auch nicht akzeptieren, daß sie bei einer früheren richterlichen Vernehmung zugegeben hatte, den Schlüssel zur Kirche gehabt zu haben. Sie habe den Schlüssel nicht gehabt, niemand habe den Schlüssel gehabt, es habe den einen Schlüssel zur Kirche gar nicht gegeben, sondern mehrere Schlüssel zu mehreren Türen, und die hätten von außen in den Schlössern gesteckt. Aber im Protokoll ihrer richterlichen Vernehmung, von ihr gelesen und unterschrieben, stand es anders, und daß sie fragte, warum man ihr etwas anhängen wolle, machte die Sache nicht besser. Sie fragte nicht laut, nicht rechthaberisch, aber beharrlich und dabei, wie ich fand, sicht- und hörbar verwirrt und ratlos, und daß sie davon redete, man wolle ihr etwas anhängen, meinte sie nicht als Vorwurf der Rechtsbeugung. Aber der Vorsitzende Richter verstand es so und reagierte mit Schärfe. Hannas Anwalt sprang auf und legte los, eifrig und hastig, wurde gefragt, ob er sich den Vorwurf seiner Mandantin zu eigen mache, und setzte sich wieder.