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Hanna wollte es richtig machen. Wo sie meinte, ihr geschehe Unrecht, widersprach sie, und sie gab zu, was ihres Erachtens zu Recht behauptet und vorgeworfen wurde. Sie widersprach beharrlich und gab bereitwillig zu, als erwerbe sie durch das Zugeben das Recht zum Widerspruch oder übernehme mit dem Widersprechen die Pflicht zuzugeben, was sie redlicherweise nicht bestreiten konnte. Aber sie merkte nicht, daß ihre Beharrlichkeit den Vorsitzenden Richter ärgerte. Sie hatte kein Gefühl für den Kontext, für die Regeln, nach denen gespielt wurde, für die Formeln, nach denen sich ihre Äußerungen und die der anderen zu Schuld und Unschuld, Verurteilung und Freispruch verrechneten. Ihr Anwalt hätte, um ihr fehlendes Gefühl für die Situation zu kompensieren, mehr Erfahrung und Sicherheit haben oder auch einfach besser sein müssen. Oder Hanna hätte es ihm nicht so schwer machen dürfen; sie verweigerte ihm offensichtlich ihr Vertrauen, hatte aber auch keinen Anwalt ihres Vertrauens gewählt. Ihr Anwalt war ein Pflichtverteidiger, vom Vorsitzenden bestellt.

Manchmal hatte Hanna eine Art von Erfolg. Ich erinnere mich an ihre Vernehmung zu den Selektionen im Lager. Die anderen Angeklagten bestritten, damit irgendwann irgend etwas zu tun gehabt zu haben. Hanna gab so bereitwillig zu, daran teilgenommen zu haben, nicht als einzige, aber wie die anderen und mit ihnen, daß der Vorsitzende Richter meinte, in sie dringen zu müssen.

»Wie liefen die Selektionen ab?«

Hanna beschrieb, daß sich die Aufseherinnen verständigt hatten, aus ihren sechs gleich großen Zuständigkeitsbereichen gleich große Gefangenenzahlen zu melden, jeweils zehn und insgesamt sechzig, daß die Zahlen aber bei niedrigem Krankenstand im einen und hohem im anderen Zuständigkeitsbereich divergieren konnten und daß alle diensthabenden Aufseherinnen letztlich gemeinsam beurteilten, wer zurückgeschickt werden sollte.

»Keine von Ihnen hat sich entzogen, Sie haben alle gemeinsam gehandelt?«

»Ja.«

»Haben Sie nicht gewußt, daß Sie die Gefangenen in den Tod schicken?«

»Doch, aber die neuen kamen, und die alten mußten Platz machen für die neuen.«

»Sie haben also, weil Sie Platz schaffen wollten, gesagt: Du und du und du mußt zurückgeschickt und umgebracht werden?«

Hanna verstand nicht, was der Vorsitzende damit fragen wollte.

»Ich habe. ich meine. Was hätten Sie denn gemacht?« Das war von Hanna als ernste Frage gemeint. Sie wußte nicht, was sie hätte anders machen sollen, anders machen können, und wollte daher vom Vorsitzenden, der alles zu wissen schien, hören, was er gemacht hätte.

Einen Moment lang war es still. Es gehört sich in deutschen Strafverfahren nicht, daß Angeklagte Richtern Fragen stellen. Aber nun war die Frage gestellt, und alle warteten auf die Antwort des Richters. Er mußte antworten, konnte die Frage nicht übergehen oder mit einer tadelnden Bemerkung, einer zurückweisenden Gegenfrage wegwischen. Allen war es klar, ihm selbst war es klar, und ich verstand, warum er den Ausdruck der Irritation zu seiner Masche gemacht hatte. Er hatte ihn zu seiner Maske gemacht. Hinter ihr konnte er sich ein bißchen Zeit nehmen, um die Antwort zu finden. Aber nicht zuviel; je länger er wartete, desto größer wuchsen Spannung und Erwartung, desto besser mußte die Antwort werden.

»Es gibt Sachen, auf die man sich einfach nicht einlassen darf und von denen man sich, wenn es einen nicht Leib und Leben kostet, absetzen muß.«

Vielleicht hätte es genügt, wenn er dasselbe gesagt, dabei aber über Hanna oder auch sich selbst geredet hätte. Davon zu reden, was man muß und was man nicht darf und was einen was kostet, wurde dem Ernst von Hannas Frage nicht gerecht. Sie hatte wissen wollen, was sie in ihrer Situation hätte machen sollen, nicht daß es Sachen gibt, die man nicht macht. Die Antwort des Richters wirkte hilflos, kläglich. Alle empfanden es. Sie reagierten mit enttäuschtem Aufatmen und schauten verwundert auf Hanna, die den Wortwechsel gewissermaßen gewonnen hatte. Aber sie selbst blieb in Gedanken.

»Also hätte ich. hätte nicht, hätte ich mich bei Siemens nicht melden dürfen?«

Das war keine Frage an den Richter. Sie sprach vor sich hin, fragte sich selbst, zögernd, weil sie sich die Frage noch nicht gestellt hatte und zweifelte, ob es die richtige Frage und was die Antwort war.

7

Wie die Beharrlichkeit, mit der Hanna widersprach, den Vorsitzenden Richter ärgerte, so ärgerte die Bereitwilligkeit, mit der sie zugab, die anderen Angeklagten. Für deren Verteidigung, aber auch für Hannas eigene Verteidigung war sie fatal.

Eigentlich war die Beweislage für die Angeklagten günstig. Beweismittel für den ersten Hauptanklagepunkt waren ausschließlich das Zeugnis der überlebenden Mutter, ihrer Tochter und deren Buch. Eine gute Verteidigung hätte, ohne die Substanz der Aussagen von Mutter und Tochter anzugreifen, glaubhaft bestreiten können, daß gerade die Angeklagten die Selektionen vorgenommen hatten. Insoweit waren die Zeugenaussagen nicht präzise und konnten nicht präzise sein; immerhin gab es einen Kommandanten, Wachmannschaften, weitere Aufseherinnen und eine Aufgaben- und Befehlshierarchie, mit der die Gefangenen nur partiell konfrontiert wurden und die sie nur entsprechend partiell durchschauen konnten. Ähnlich war es beim zweiten Anklagepunkt. Mutter und Tochter waren in der Kirche eingesperrt gewesen und konnten über das, was draußen passiert war, keine Aussagen machen. Die Angeklagten konnten zwar nicht vorgeben, nicht dort gewesen zu sein. Die anderen Zeugen, die damals in dem Dorf gelebt hatten, hatten mit ihnen gesprochen und erinnerten sich an sie. Aber diese anderen Zeugen mußten aufpassen, daß auf sie nicht der Vorwurf fiel, sie hätten selbst die Gefangenen retten können. Wenn nur die Angeklagten da waren — konnten dann die Bewohner des Dorfs die paar Frauen nicht überwältigen und selbst die Türen der Kirche aufschließen? Mußten sie nicht auf eine Linie der Verteidigung einschwenken, bei der die Angeklagten unter einem auch sie, die Zeugen, entlastenden Zwang handelten? Unter der Gewalt oder dem Befehl von Wachmannschaften, die doch noch nicht geflohen waren oder von denen die Angeklagten immerhin angenommen hatten, sie seien nur kurz weg, etwa um Verwundete in ein Lazarett zu schaffen, und bald wieder zurück?

Als die Verteidiger der anderen Angeklagten merkten, daß solche Strategien an Hannas bereitwilligem Zugeben scheiterten, stellten sie auf eine Strategie um, die das bereitwillige Zugeben ausnutzte, Hanna be- und dadurch die anderen Angeklagten entlastete. Die Verteidiger taten es mit fachlicher Distanz. Die anderen Angeklagten sekundierten mit empörten Einwürfen.