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»Daß die Gefangenen uns. nein, aber wie hätten wir da noch mal Ordnung reinbringen sollen? Das hätte ein Durcheinander gegeben, mit dem wir nicht fertiggeworden wären. Und wenn sie zu fliehen versucht hätten.«

Wieder wartete der Vorsitzende, aber Hanna sprach den Satz nicht zu Ende. »Hatten Sie Angst, daß man Sie im Fall der Flucht verhaften, verurteilen, erschießen würde?«

»Wir hätten sie doch nicht einfach fliehen lassen können! Wir waren doch dafür verantwortlich. Ich meine, wir hatten sie doch die ganze Zeit bewacht, im Lager und im Zug, das war doch der Sinn, daß wir sie bewachen und daß sie nicht fliehen. Darum haben wir nicht gewußt, was wir machen sollen. Wir haben auch nicht gewußt, wie viele Frauen die nächsten Tage überleben. Es waren schon so viele gestorben, und die, die noch lebten, waren auch schon so schwach.«

Hanna merkte, daß sie ihrer Sache mit dem, was sie sagte, keinen Dienst erwies. Aber sie konnte nichts anderes sagen. Sie konnte nur versuchen, das, was sie sagte, besser zu sagen, besser zu beschreiben und zu erklären. Aber je mehr sie sagte, desto schlechter sah es um ihre Sache aus. Weil sie nicht ein noch aus wußte, wandte sie sich wieder an den Vorsitzenden.

»Was hätten Sie denn gemacht?«

Aber diesmal wußte sie selbst, daß sie keine Antwort bekommen würde. Sie erwartete keine Antwort. Niemand erwartete eine Antwort. Der Vorsitzende schüttelte stumm den Kopf.

Nicht daß man sich die Rat- und Hilflosigkeit, die Hanna beschrieb, nicht hätte vorstellen können. Die Nacht, die Kälte, der Schnee, das Feuer, das Schreien der Frauen in der Kirche, das Verschwinden derer, die den Aufseherinnen befohlen und sie begleitet hatten — wie hätte die Situation einfach sein sollen. Aber konnte die Einsicht, daß die Situation schwierig gewesen war, das Entsetzen über das, was die Angeklagten getan oder auch nicht getan hatten, relativieren? Als sei es um einen Autounfall auf einsamer Straße in kalter Winternacht gegangen, mit Verletzungen und Totalschaden, wo man nicht weiß, was tun? Oder um einen Konflikt zwischen zwei Pflichten, die beide unseren Einsatz verdienen? So konnte man, aber man wollte sich nicht vorstellen, was Hanna beschrieb.

»Haben Sie den Bericht geschrieben?«

»Wir haben uns zusammen überlegt, was wir schreiben sollen. Wir wollten denen, die sich davongemacht hatten, nichts anhängen. Aber daß wir was falsch gemacht hätten, wollten wir uns auch nicht anziehen.«

»Sie sagen also, Sie haben zusammen überlegt. Wer hat geschrieben?«

»Du!« Die andere Angeklagte zeigte wieder mit dem Finger auf Hanna.

»Nein, ich habe nicht geschrieben. Ist es wichtig, wer geschrieben hat?«

Ein Staatsanwalt schlug vor, einen Sachverständigen die Schrift des Berichts und die Schrift der Angeklagten Schmitz miteinander vergleichen zu lassen.

»Meine Schrift? Sie wollen meine Schrift.«

Der Vorsitzende, der Staatsanwalt und Hannas Verteidiger diskutierten, ob eine Schrift ihre Identität über mehr als fünfzehn Jahre durchhält und erkennen läßt. Hanna hörte zu und setzte ein paarmal an, etwas zu sagen oder zu fragen, war zunehmend alarmiert. Dann sagte sie: »Sie brauchen keinen Sachverständigen holen. Ich gebe zu, daß ich den Bericht geschrieben habe.«

10

An die freitäglichen Seminarsitzungen habe ich keine Erinnerung. Auch wenn ich mir die Gerichtsverhandlung vergegenwärtige, fällt mir nicht ein, was wir wissenschaftlich bearbeitet haben. Worüber haben wir gesprochen? Was wollten wir wissen? Wessen hat uns der Professor belehrt?

Aber ich erinnere mich an die Sonntage. Von den Tagen im Gericht brachte ich einen mir neuen Hunger nach den Farben und Gerüchen der Natur mit. An den Freitagen und Samstagen habe ich das, was ich an den anderen Wochentagen im Studium versäumte, immerhin soweit nachgearbeitet, daß ich bei den Übungen mithalten und das Pensum des Semesters bewältigen konnte. An den Sonntagen bin ich losgelaufen.

Heiligenberg, Michaelsbasilika, Bismarckturm, Philosophenweg, Flußufer — ich habe den Weg von Sonntag zu Sonntag nur geringfügig variiert. Ich fand genug Vielfalt darin, das von Woche zu Woche sattere Grün und die Rheinebene mal im Dunst der Hitze, mal hinter Regenschleiern und mal unter Gewitterwolken zu sehen und im Wald die Beeren und die Blumen zu riechen, wenn die Sonne auf sie brannte, und die Erde und die modernden Blätter vom vergangenen Jahr, wenn es regnete. Überhaupt brauche und suche ich nicht viel Vielfalt. Die nächste Reise ein bißchen weiter als die letzte, der nächste Urlaub in dem Ort, den ich beim letzten entdeckt habe und der mir gefallen hat — eine Zeitlang habe ich gemeint, kühner sein zu müssen, und mich nach Ceylon, Ägypten und Brasilien gezwungen, ehe ich wieder dazu überging, mir die vertrauten Regionen noch vertrauter zu machen. In ihnen sehe ich mehr.

Ich habe die Stelle im Wald wiedergefunden, wo sich mir Hannas Geheimnis enthüllte. Sie hat nichts Besonderes und hatte damals nichts Besonderes, keinen eigentümlich gewachsenen Baum oder Fels, keinen ungewöhnlichen Blick auf die Stadt und in die Ebene, nichts, was zu überraschenden Assoziationen einladen würde. Beim Nachdenken über Hanna, Woche um Woche in denselben Bahnen kreisend, hatte sich ein Gedanke abgespalten, hatte seinen eigenen Weg verfolgt und schließlich sein eigenes Ergebnis hervorgebracht. Als er damit fertig war, war er damit fertig — es hätte überall sein können oder jedenfalls überall da, wo die Vertrautheit der Umgebung und Umstände zuläßt, das Überraschende, das einen nicht von außen anfällt, sondern innen wächst, wahrzunehmen und anzunehmen. So war es auf einem Weg, der steil den Berg hinansteigt, die Fahrstraße überquert, einen Brunnen passiert und zuerst unter alten, hohen, dunklen Bäumen und dann durch lichtes Gehölz führt.

Hanna konnte nicht lesen und schreiben.

Deswegen hatte sie sich vorlesen lassen. Deswegen hatte sie mich auf unserer Fahrradtour das Schreiben und Lesen übernehmen lassen und war am Morgen im Hotel außer sich gewesen, als sie meinen Zettel gefunden, meine Erwartung, sie kenne seinen Inhalt, geahnt und ihre Bloßstellung gefürchtet hatte. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei der Straßenbahn entzogen; ihre Schwäche, die sie als Schaffnerin verbergen konnte, wäre bei der Ausbildung zur Fahrerin offenkundig geworden. Deswegen hatte sie sich der Beförderung bei Siemens entzogen und war Aufseherin geworden. Deswegen hatte sie, um der Konfrontation mit dem Sachverständigen zu entgehen, zugegeben, den Bericht geschrieben zu haben. Hatte sie sich deswegen im Prozeß um Kopf und Kragen geredet? Weil sie das Buch der Tochter wie auch die Anklage nicht hatte lesen, die Chancen ihrer Verteidigung nicht hatte sehen und sich nicht entsprechend hatte vorbereiten können? Hatte sie deswegen ihre Schützlinge nach Auschwitz geschickt? Um sie, falls sie was gemerkt haben sollten, stumm zu machen? Und hatte sie deswegen die Schwachen zu ihren Schützlingen gemacht?

Deswegen? Daß sie sich schämte, nicht lesen und schreiben zu können, und lieber mich befremdet als sich bloßgestellt hatte, verstand ich. Scham als Grund für ausweichendes, abwehrendes, verbergendes und verstellendes, auch verletzendes Verhalten kannte ich selbst. Aber Hannas Scham, nicht lesen und schreiben zu können, als Grund für ihr Verhalten im Prozeß und im Lager? Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin die Bloßstellung als Verbrecherin? Aus Angst vor der Bloßstellung als Analphabetin das Verbrechen?

Wie oft habe ich mir damals und seitdem dieselben Fragen gestellt. Wenn Hannas Motiv die Angst vor Bloßstellung war — wieso dann statt der harmlosen Bloßstellung als Analphabetin die furchtbare als Verbrecherin? Oder meinte sie, ohne jede Bloßstellung durch- und davonzukommen? War sie einfach dumm? Und war sie so eitel und böse, für das Vermeiden einer Bloßstellung zur Verbrecherin zu werden?

Ich habe es damals und seitdem immer wieder verworfen. Nein, habe ich mir gesagt, Hanna hatte sich nicht für das Verbrechen entschieden. Sie hatte sich gegen die Beförderung bei Siemens entschieden und war in die Tätigkeit als Aufseherin hineingeraten. Und nein, sie hatte die Zarten und Schwachen nicht mit dem Transport nach Auschwitz geschickt, weil sie ihr vorgelesen hatten, sondern hatte sie fürs Vorlesen ausgewählt, weil sie ihnen den letzten Monat erträglich machen wollte, ehe sie ohnehin nach Auschwitz mußten. Und nein, im Prozeß wog Hanna nicht zwischen der Bloßstellung als Analphabetin und der Bloßstellung als Verbrecherin ab. Sie kalkulierte und taktierte nicht. Sie akzeptierte, daß sie zur Rechenschaft gezogen wurde, wollte nur nicht überdies bloßgestellt werden. Sie verfolgte nicht ihr Interesse, sondern kämpfte um ihre Wahrheit, ihre Gerechtigkeit. Es waren, weil sie sich immer ein bißchen verstellen mußte, weil sie nie ganz offen, nie ganz sie selbst sein konnte, eine klägliche Wahrheit und eine klägliche Gerechtigkeit, aber es waren ihre, und der Kampf darum war ihr Kampf.