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Wenn wir Kinder unseren Vater sprechen wollten, gab er uns Termine wie seinen Studenten. Er arbeitete zu Hause und ging in die Universität nur, um seine Kollegs und Seminare zu halten. Die Kollegen und Studenten, die ihn sprechen wollten, kamen zu ihm nach Hause. Ich erinnere mich an Reihen von Studenten, die im Korridor an der Wand lehnten und warteten, bis sie an die Reihe kamen, manche lesend, andere die Stadtansichten betrachtend, die im Korridor hingen, andere ins Leere starrend, alle stumm, bis auf einen verlegenen Gruß, wenn wir Kinder grüßend durch den Flur gingen. Wir selbst warteten nicht im Flur, wenn unser Vater uns einen Termin gegeben hatte. Aber auch wir klopften zum festgesetzten Zeitpunkt an die Tür seines Arbeitszimmers und wurden hereingerufen.

Ich habe zwei Arbeitszimmer meines Vaters erlebt. Die Fenster des ersten, in dem Hanna die Bücher mit dem Finger abgeschritten hat, gingen auf Straßen und Häuser. Die des zweiten gingen auf die Rheinebene. Das Haus, in das wir Anfang der sechziger Jahre gezogen und in dem meine Eltern wohnen geblieben sind, als wir Kinder groß waren, lag über der Stadt am Hang. Hier wie dort weiteten die Fenster den Raum nicht in die Welt draußen, sondern hängten diese in das Zimmer wie Bilder. Das Arbeitszimmer meines Vaters war ein Gehäuse, in dem die Bücher, Papiere, Gedanken und der Pfeifen-und Zigarrenrauch eigene, von denen der Außenwelt verschiedene Druckverhältnisse geschaffen hatten. Sie waren mir zugleich vertraut und fremd.

Mein Vater ließ mich mein Problem präsentieren, in der abstrakten Fassung und mit den Beispielen. »Es hat mit dem Prozeß zu tun, nicht wahr?« Aber er schüttelte den Kopf, um mir zu bedeuten, daß er keine Antwort erwarte, nicht in mich dringen, von mir nichts wissen wolle, was ich nicht von mir aus sagte. Dann saß er, den Kopf zur Seite geneigt, mit den Händen die Armlehnen festhaltend, und dachte nach. Er sah mich nicht an. Ich betrachtete ihn, sein graues Haar, seine wie immer schlecht rasierten Backen, die scharfen Falten zwischen den Augen und von den Nasenflügeln zu den Mundwinkeln. Ich wartete.

Als er redete, holte er weit aus. Er belehrte mich über Person, Freiheit und Würde, über den Menschen als Subjekt und darüber, daß man ihn nicht zum Objekt machen dürfe. »Erinnerst du dich nicht mehr, wie es dich als kleinen Jungen empören konnte, wenn Mama besser wußte als du, was für dich gut war? Schon wieweit man das bei Kindern tun darf, ist ein wirkliches Problem. Es ist ein philosophisches Problem, aber die Philosophie kümmert sich nicht um die Kinder. Sie hat sie der Pädagogik überlassen, wo sie schlecht aufgehoben sind. Die Philosophie hat die Kinder vergessen«, er lächelte mich an, »für immer vergessen, nicht nur für manchmal, wie ich euch.«

»Aber.«

»Aber bei Erwachsenen sehe ich schlechterdings keinerlei Rechtfertigung dafür, das, was ein anderer für sie für gut hält, über das zu setzen, was sie selbst für sich für gut halten.«

»Auch nicht, wenn sie später selbst glücklich damit sind?«

Er schüttelte den Kopf. »Wir reden nicht über Glück, sondern über Würde und Freiheit. Schon als kleiner Junge hast du den Unterschied gekannt. Es hat dich nicht getröstet, daß Mama immer recht hatte.«

Heute denke ich gerne an das Gespräch mit meinem Vater zurück. Ich hatte es vergessen, bis ich nach seinem Tod begann, im Bodensatz der Erinnerung nach schönen Begegnungen, Erlebnissen und Erfahrungen mit ihm zu suchen. Als ich es fand, betrachtete ich es verwundert und beglückt. Damals war ich zunächst verwirrt von meines Vaters Mischung aus Abstraktion und Anschaulichkeit. Aber schließlich machte ich mir auf das, was er gesagt hatte, den Reim, daß ich nicht mit dem Richter reden mußte, daß ich gar nicht mit ihm reden durfte, und war erleichtert.

Mein Vater sah es mir an. »So gefällt dir die Philosophie?«

»Naja, ich wußte nicht, ob man in der Situation, die ich beschrieben habe, handeln muß, und war eigentlich nicht glücklich mit der Vorstellung, daß man muß, und wenn man nun gar nicht handeln darf — ich finde das.« Ich wußte nicht, was sagen. Erleichternd? Beruhigend? Angenehm? Das klang nicht nach Moral und Verantwortung. Ich finde es gut, klang moralisch und verantwortlich, aber ich konnte nicht sagen, daß ich es gut, daß ich es mehr als nur erleichternd fand.

»Angenehm?« schlug mein Vater vor.

Ich nickte mit dem Kopf und zuckte mit den Schultern.

»Nein, dein Problem hat keine angenehme Lösung. Natürlich muß man handeln, wenn die von dir beschriebene Situation eine Situation zugewachsener oder übernommener Verantwortung ist. Wenn man weiß, was für den anderen gut ist und daß er die Augen davor verschließt, muß man versuchen, ihm die Augen zu öffnen. Man muß ihm das letzte Wort lassen, aber man muß mit ihm reden, mit ihm, nicht hinter seinem Rücken mit jemand anderem.«

Mit Hanna reden? Was sollte ich ihr sagen? Daß ich ihre Lebenslüge durchschaut hatte? Daß sie drauf und dran war, ihr ganzes Leben dieser dummen Lüge zu opfern? Daß die Lüge das Opfer nicht wert war? Daß sie darum kämpfen sollte, nicht länger als nötig ins Gefängnis zu müssen, um danach noch viel mit ihrem Leben anzufangen? Was eigentlich? Ob viel, etwas oder wenig — was sollte sie mit ihrem Leben anfangen? Konnte ich ihr ihre Lebenslüge wegnehmen, ohne ihr eine Lebensperspektive zu eröffnen? Ich wußte keine langfristige, und ich wußte auch nicht, wie ich ihr gegenübertreten und sagen sollte, es sei schon richtig, daß nach dem, was sie getan hatte, ihre Lebensperspektive kurz- und mittelfristig Gefängnis heißen würde. Ich wußte nicht, wie ich ihr gegenübertreten und irgend etwas sagen sollte. Ich wußte überhaupt nicht, wie ich ihr gegenübertreten sollte.

Ich fragte meinen Vater: »Und was ist, wenn man nicht mit ihm reden kann?«

Er sah mich zweifelnd an, und ich wußte selbst, daß die Frage neben der Sache lag. Es gab nichts mehr zu moralisieren. Ich mußte mich nur noch entscheiden.

»Ich habe dir nicht helfen können.« Mein Vater stand auf und ich auch. »Nein, du mußt nicht gehen, mir tut nur der Rücken weh.« Er stand krumm, die Hände auf die Nieren gepreßt. »Ich kann nicht sagen, daß es mir leid tut, daß ich dir nicht helfen kann. Als der Philosoph, meine ich, als den du mich gefragt hast. Als Vater finde ich die Erfahrung, meinen Kindern nicht helfen zu können, schier unerträglich.«

Ich wartete, aber er redete nicht weiter. Ich fand, er mache es sich leicht; ich wußte, wann er sich mehr um uns hätte kümmern und wie er uns mehr hätte helfen können. Dann dachte ich, daß er das vielleicht selbst weiß und wirklich schwer daran trägt. Aber so oder so konnte ich ihm nichts sagen. Ich wurde verlegen und hatte das Gefühl, daß auch er verlegen war.

»Ja, dann.«

»Du kannst jederzeit kommen.« Mein Vater sah mich an.

Ich glaubte ihm nicht und nickte.

13

Im Juni flog das Gericht für zwei Wochen nach Israel. Die dortige Vernehmung war eine Sache weniger Tage. Aber Richter und Staatsanwälte verbanden das justizielle mit dem touristischen Ereignis, Jerusalem und Tel Aviv, Negev und Rotes Meer. Das war dienst-, urlaubs- und kostenrechtlich sicher in Ordnung. Gleichwohl fand ich es bizarr.

Ich hatte geplant, die zwei Wochen ganz ans Studium zu wenden. Aber es lief nicht so, wie ich es mir vorgestellt und vorgenommen hatte. Ich konnte mich nicht aufs Lernen konzentrieren, nicht auf die Professoren und nicht auf die Bücher. Wieder und wieder schweiften meine Gedanken ab und verloren sich in Bildern.

Ich sah Hanna bei der brennenden Kirche, mit hartem Gesicht, schwarzer Uniform und Reitpeitsche. Mit der Reitpeitsche zeichnet sie Kringel in den Schnee und schlägt gegen die Stiefelschäfte. Ich sah sie, wie sie sich vorlesen läßt. Sie hört aufmerksam zu, stellt keine Fragen und macht keine Bemerkungen. Als die Stunde vorbei ist, teilt sie der Vorleserin mit, daß sie morgen mit dem Transport nach Auschwitz geht. Die Vorleserin, ein schmächtiges Geschöpf mit schwarzen Haarstoppeln und kurzsichtigen Augen, beginnt zu weinen. Hanna schlägt mit der Hand gegen die Wand, und zwei Frauen treten ein, auch sie Häftlinge in gestreiftem Gewand, und zerren die Vorleserin raus. Ich sah Hanna Lagerstraßen entlanggehen und in Häftlingsbaracken treten und Bauarbeiten überwachen. Sie tut alles mit demselben harten Gesicht, mit kalten Augen und schmalem Mund, und die Häftlinge ducken sich, beugen sich über die Arbeit, drücken sich an die Wand, in die Wand, wollen in der Wand verschwinden. Manchmal sind viele Häftlinge angetreten oder laufen hierhin und dorthin oder formen Reihen oder marschieren, und Hanna steht dazwischen und schreit Kommandos, das schreiende Gesicht eine häßliche Fratze, und hilft mit der Reitpeitsche nach. Ich sah den Kirchturm ins Kirchendach schlagen und die Funken stieben und hörte die Verzweiflung der Frauen. Ich sah die ausgebrannte Kirche am nächsten Morgen.