»Waren Sie das? Haben Sie auf dem Sims gesessen und.«
Er hielt an. Er war ganz bleich, und das Mal an seiner Schläfe leuchtete. »Raus!«
Ich stieg aus. Er wendete so, daß ich einen Sprung zur Seite machen mußte. Ich hörte ihn noch in den nächsten Kurven. Dann war es still.
Ich ging die Straße bergan. Kein Auto überholte mich, keines kam mir entgegen. Ich hörte Vögel, den Wind in den Bäumen, manchmal das Rauschen eines Bachs. Ich atmete erlöst. Nach einer Viertelstunde hatte ich das Konzentrationslager erreicht.
15
Ich bin unlängst noch mal hingefahren. Es war Winter, ein klarer, kalter Tag. Hinter Schirmeck war der Wald verschneit, weiß bepuderte Bäume und weiß bedeckter Boden. Das Gelände des Konzentrationslagers, ein längliches Areal auf abfallender Bergterrasse mit weitem Blick über die Vogesen, lag weiß in der hellen Sonne. Das graublau gestrichene Holz der zwei- und dreistöckigen Wachtürme und der einstöckigen Baracken kontrastierte freundlich mit dem Schnee. Gewiß, da gab es das maschendrahtverhauene Tor mit dem Schild »Konzentrationslager Struthof-Natzweiler« und den um das Lager laufenden doppelten Stacheldrahtzaun. Aber der Boden zwischen den verbliebenen Baracken, auf dem ursprünglich weitere Baracken dicht an dicht gedrängt standen, ließ unter der glitzernden Schneedecke vom Lager nichts mehr erkennen. Er hätte ein Rodelhang für Kinder sein können, die in den freundlichen Baracken mit den gemütlichen Sprossenfenstern Winterferien machen und gleich zu Kuchen und heißer Schokolade hereingerufen werden.
Das Lager war geschlossen. Ich stapfte durch den Schnee darum herum und holte mir nasse Füße. Ich konnte das ganze Gelände gut einsehen und erinnerte mich, wie ich es damals, bei meinem ersten Besuch, auf Stufen, die zwischen den Grundmauern der abgetragenen Baracken hinabführten, abgegangen war. Ich erinnerte mich auch an Krematoriumsöfen, die damals in einer Baracke gezeigt worden waren, und daran, daß eine andere Baracke ein Zellenbau gewesen war. Ich erinnerte mich an meinen damaligen vergeblichen Versuch, mir ein volles Lager und Häftlinge und Wachmannschaften und das Leiden konkret vorzustellen. Ich versuchte es wirklich, schaute auf eine Baracke, schloß die Augen und reihte Baracke an Baracke. Ich durchmaß eine Baracke, errechnete aus dem Prospekt die Belegung und stellte mir die Enge vor. Ich erfuhr, daß die Stufen zwischen den Baracken zugleich als Appellplatz dienten, und füllte sie beim Blick vom unteren zum oberen Ende des Lagers mit Reihen von Rücken. Aber es war alles vergeblich, und ich hatte das Gefühl kläglichen, beschämenden Versagens. Bei der Rückfahrt fand ich weiter unten am Hang ein kleines, einem Restaurant gegenüber gelegenes Haus als Gaskammer ausgewiesen. Es war weiß gestrichen, hatte sandsteingefaßte Türen und Fenster und hätte eine Scheune oder ein Schuppen sein können oder ein Wohngebäude für Dienstboten. Auch dieses Haus war geschlossen, und ich erinnerte mich nicht, damals im Inneren gewesen zu sein. Ich bin nicht ausgestiegen. Ich saß eine Weile bei laufendem Motor im Wagen und schaute. Dann fuhr ich weiter.
Zuerst scheute ich mich, auf dem Heimweg durch die Dörfer des Elsaß zu mäandern und ein Restaurant fürs Mittagessen zu suchen. Aber die Scheu verdankte sich nicht einer echten Empfindung, sondern Überlegungen, wie man sich nach dem Besuch eines Konzentrationslagers zu fühlen habe. Ich merkte es selbst, zuckte die Schultern und fand in einem Dorf am Hang der Vogesen das Restaurant »Au Petit Gargon«. Von meinem Tisch aus hatte ich den Blick in die Ebene. »Jungchen« hatte mich Hanna genannt.
Bei meinem ersten Besuch bin ich auf dem Gelände des Konzentrationslagers herumgelaufen, bis es schloß. Danach habe ich mich unter das Denkmal gesetzt, das oberhalb des Lagers steht, und auf das Gelände hinabgeschaut. In mir fühlte ich eine große Leere, als hätte ich nach der Anschauung nicht da draußen, sondern in mir gesucht und feststellen müssen, daß in mir nichts zu finden ist.
Dann wurde es dunkel. Ich mußte eine Stunde warten, bis mich ein kleiner offener Lastwagen auf die Ladefläche aufsitzen ließ und in das nächste Dorf mitnahm, und gab auf, am selben Tag zurückzutrampen. Ich fand ein billiges Zimmer in einem Dorfgasthof und aß in der Gaststube ein dünnes Steak mit Pommes frites und Erbsen.
An einem Nachbartisch spielten lärmend vier Männer Karten. Die Tür ging auf, und grußlos kam ein kleiner alter Mann herein. Er trug kurze Hosen und hatte ein Holzbein. An der Theke verlangte er Bier. Dem Nachbartisch kehrte er seinen Rücken und seinen viel zu großen kahlen Schädel zu. Die Kartenspieler legten die Karten hin, griffen in die Aschenbecher, nahmen die Kippen, warfen und trafen. Der Mann an der Theke flatterte mit den Händen um seinen Hinterkopf, als wolle er Fliegen abwehren. Der Wirt stellte ihm das Bier hin. Niemand sagte etwas.
Ich hielt es nicht aus, sprang auf und trat an den Nachbartisch. »Hören Sie auf!« Ich zitterte vor Empörung. In dem Moment humpelte der Mann in hüpfenden Sprüngen heran, nestelte an seinem Bein, hatte das Holzbein plötzlich in beiden Händen, schlug es krachend auf den Tisch, daß die Gläser und Aschenbecher tanzten, und ließ sich auf den freien Stuhl fallen. Dabei lachte er mit zahnlosem Mund ein quiekendes Lachen, und die anderen lachten mit, ein dröhnendes Bierlachen. »Hören Sie auf«, lachten sie und zeigten auf mich, »hören Sie auf.«
In der Nacht stürmte der Wind ums Haus. Mir war nicht kalt, und das Heulen des Winds, das Knarren des Baums vor dem Fenster und das gelegentliche Schlagen eines Ladens waren nicht so laut, daß ich darum nicht hätte schlafen können. Aber ich wurde innerlich immer unruhiger, bis ich auch äußerlich am ganzen Körper zitterte. Ich hatte Angst, nicht als Erwartung eines schlimmen Ereignisses, sondern als körperliche Befindlichkeit. Ich lag da, hörte auf den Wind, war erleichtert, wenn er schwächer und leiser wurde, fürchtete sein erneutes Anschwellen und wußte nicht, wie ich am nächsten Morgen aufstehen, zurücktrampen, weiterstudieren und eines Tages Beruf und Frau und Kinder haben sollte.
Ich wollte Hannas Verbrechen zugleich verstehen und verurteilen. Aber es war dafür zu furchtbar. Wenn ich versuchte, es zu verstehen, hatte ich das Gefühl, es nicht mehr so zu verurteilen, wie es eigentlich verurteilt gehörte. Wenn ich es so verurteilte, wie es verurteilt gehörte, blieb kein Raum fürs Verstehen. Aber zugleich wollte ich Hanna verstehen; sie nicht zu verstehen, bedeutete, sie wieder zu verraten. Ich bin damit nicht fertiggeworden. Beidem wollte ich mich stellen: dem Verstehen und dem Verurteilen. Aber beides ging nicht.
Der nächste Tag war wieder ein wunderschöner Sommertag. Das Trampen ging leicht, und ich war in wenigen Stunden zurück. Ich lief durch die Stadt, als sei ich lange weggewesen; mir waren die Straßen und Häuser und Menschen fremd. Aber die fremde Welt der Konzentrationslager war mir darum nicht nähergerückt. Meine Eindrücke vom Struthof gesellten sich den wenigen Bildern von Auschwitz und Birkenau und Bergen-Belsen zu, die ich schon hatte, und erstarrten mit ihnen.
16
Ich bin dann doch noch zum Vorsitzenden Richter gegangen. Zu Hanna zu gehen, schaffte ich nicht. Aber nichts zu tun, hielt ich auch nicht aus.
Warum ich nicht schaffte, mit Hanna zu reden? Sie hatte mich verlassen, hatte mich getäuscht, war nicht die gewesen, die ich in ihr gesehen oder auch in sie hineinphantasiert hatte. Und wer war ich für sie gewesen? Der kleine Vorleser, den sie benutzt, der kleine Beischläfer, mit dem sie ihren Spaß gehabt hatte? Hätte sie mich auch ins Gas geschickt, wenn sie mich nicht hätte verlassen können, aber loswerden wollen?
Warum ich nicht aushielt, nichts zu tun? Ich sagte mir, ich müsse ein Fehlurteil verhindern. Ich müsse dafür sorgen, daß Gerechtigkeit geschieht, ungeachtet Hannas Lebenslüge, Gerechtigkeit sozusagen für und gegen Hanna. Aber es ging mir nicht wirklich um Gerechtigkeit. Ich konnte Hanna nicht lassen, wie sie war oder sein wollte. Ich mußte an ihr rummachen, irgendeine Art von Einfluß und Wirkung auf sie haben, wenn nicht direkt, dann indirekt.