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Ich habe Hanna nie geschrieben. Aber ich habe ihr immer weiter vorgelesen. Als ich ein Jahr in Amerika verbrachte, schickte ich von dort Kassetten. Wenn ich in Urlaub fuhr oder besonders viel Arbeit hatte, konnte es länger dauern, bis die nächste Kassette fertig wurde; ich habe keinen festen Rhythmus etabliert, sondern Kassetten mal wöchentlich oder vierzehntägig und mal auch erst nach drei oder vier Wochen geschickt. Daß Hanna jetzt, nachdem sie selbst lesen gelernt hatte, meine Kassetten nicht mehr brauchen könnte, hat mich nicht beschäftigt. Mochte sie außerdem lesen. Das Vorlesen war, meine Art, zu ihr, mit ihr zu sprechen.

Ich habe alle ihre Grüße aufgehoben. Die Schrift wandelt sich. Zuerst zwingt sie die Buchstaben in die gleiche Schrägrichtung und in die richtige Höhe und Breite. Nachdem sie das geschafft hat, kann sie leichter und sicherer werden. Flüssig wird sie nie. Aber sie gewinnt etwas von der strengen Schönheit, die den Schriften alter Leute eignet, die im Leben wenig geschrieben haben.

7

Ich habe mir damals keine Gedanken darüber gemacht, daß Hanna eines Tages entlassen würde. Der Austausch von Grüßen und Kassetten war so normal und vertraut und Hanna mir auf so freie Weise sowohl nah als auch fern, daß ich den Zustand hätte fort- und fortdauern lassen können. Das war bequem und egoistisch, ich weiß. Dann kam der Brief der Leiterin des Gefängnisses.

»Seit Jahren stehen Frau Schmitz und Sie in brieflichem Austausch. Es ist der einzige Kontakt, den Frau Schmitz nach draußen hat, und so wende ich mich an Sie, obwohl ich nicht weiß, wie eng Sie verbunden und ob Sie Verwandter oder Freund sind.

Nächstes Jahr wird Frau Schmitz wieder ein Gnadengesuch stellen, und ich gehe davon aus, daß der Gnadenausschuß ihm stattgeben wird. Sie wird dann bald entlassen werden — nach achtzehn Jahren Haft. Natürlich können wir ihr Wohnung und Arbeit besorgen bzw. zu besorgen versuchen; mit Arbeit wird es in ihrem Alter schwierig werden, auch wenn sie noch völlig gesund ist und in unserer Näherei großes Geschick zeigt. Aber besser, als wenn wir uns darum kümmern, ist es, wenn Verwandte oder Freunde es tun und die Entlassene in ihrer Nähe haben und begleiten und stützen. Sie können sich nicht vorstellen, wie einsam und hilflos man nach achtzehn Jahren Haft draußen sein kann. Frau Schmitz kann sich ziemlich gut selbst helfen und kommt auch allein zurecht. Es wäre ausreichend, wenn Sie ihr eine kleine Wohnung und Arbeit fänden, sie in den ersten Wochen und Monaten gelegentlich besuchen und einladen könnten und sich darum kümmerten, daß sie von den Angeboten der Kirchengemeinde, Volkshochschule, Familienbildungsstätte usw. erfährt. Außerdem ist es nicht leicht, nach achtzehn Jahren erstmals in die Stadt zu gehen, einzukaufen, bei Behörden vorzusprechen, ein Restaurant aufzusuchen. Es macht sich in Begleitung leichter. Ich habe bemerkt, daß Sie Frau Schmitz nicht besuchen. Täten Sie es, dann würde ich Ihnen nicht schreiben, sondern Sie anläßlich eines Besuchs zu einem Gespräch bitten. Nun geht es nicht anders, als daß Sie sie vor ihrer Entlassung besuchen. Bitte schauen Sie bei dieser Gelegenheit doch bei mir vorbei.«

Der Brief schloß mit herzlichen Grüßen, die ich nicht auf mich, sondern darauf bezog, daß der Leiterin das Anliegen ein Herzensanliegen war. Ich hatte schon von ihr gehört; ihre Anstalt galt als außergewöhnlich, und ihre Stimme hatte in Fragen der Reform des Strafvollzugs Gewicht. Mir gefiel ihr Brief.

Aber mir gefiel nicht, was auf mich zukam. Natürlich mußte ich mich um Arbeit und Wohnung kümmern und habe es auch getan. Freunde, die die Einliegerwohnung in ihrem Haus weder benutzten noch vermieteten, waren bereit, sie für eine geringe Miete Hanna zu überlassen. Der griechische Schneider, bei dem ich gelegentlich Kleider ändern ließ, wollte Hanna beschäftigen; seine Schwester, die die Schneiderei mit ihm zusammen betrieb, zog es zurück nach Griechenland. Ich habe mich auch schon lange, bevor Hanna etwas damit anfangen konnte, um die sozialen und Bildungsangebote kirchlicher und weltlicher Einrichtungen gekümmert. Aber den Besuch bei Hanna schob ich vor mir her.

Gerade weil sie mir auf so freie Weise sowohl nah als auch fern war, wollte ich sie nicht besuchen. Ich hatte das Gefühl, sie könne, was sie mir war, nur in der realen Distanz sein. Ich hatte Angst, die kleine, leichte, geborgene Welt der Grüße und Kassetten sei zu künstlich und zu verletzlich, als daß sie die reale Nähe aushalten könnte. Wie sollten wir uns von Angesicht zu Angesicht begegnen, ohne daß alles hochkam, was zwischen uns geschehen war.

So ging das Jahr dahin, ohne daß ich im Gefängnis gewesen wäre. Von der Leiterin des Gefängnisses habe ich lange nichts gehört; ein Brief, in dem ich von der Wohnungs- und Arbeitssituation berichtete, die Hanna erwartete, blieb unbeantwortet. Sie rechnete wohl damit, mich anläßlich meines Besuchs bei Hanna zu sprechen. Sie konnte nicht wissen, daß ich diesen Besuch nicht nur hinausschob, sondern mich vor ihm drückte. Aber schließlich fiel die Entscheidung, daß Hanna begnadigt und entlassen werden sollte, und die Leiterin rief mich an. Ob ich jetzt kommen könne? In einer Woche komme Hanna raus.

8

Am nächsten Sonntag war ich bei ihr. Es war mein erster Besuch in einem Gefängnis. Ich wurde am Eingang kontrolliert, und auf dem Weg wurden mehrere Türen auf- und zugeschlossen. Aber der Bau war neu und hell, und im inneren Bereich standen die Türen auf und bewegten die Frauen sich frei. Am Ende des Gangs ging eine Tür ins Freie, auf eine belebte kleine Wiese mit Bäumen und Bänken. Ich sah mich suchend um. Die Wärterin, die mich geführt hatte, zeigte auf eine nahe Bank im Schatten einer Kastanie.

Hanna? Die Frau auf der Bank war Hanna? Graue Haare, ein Gesicht mit tiefen senkrechten Furchen in der Stirn, in den Backen, um den Mund und ein schwerer Leib. Sie trug ein zu enges, an Brust, Bauch und Schenkeln spannendes hellblaues Kleid. Ihre Hände lagen im Schoß und hielten ein Buch. Sie las nicht darin. Über den Rand ihrer Lese-Halbbrille schaute sie einer Frau zu, die ein paar Spatzen Brotkrume um Brotkrume vorwarf. Dann merkte sie, daß sie beobachtet wurde, und wandte mir ihr Gesicht zu.

Ich sah die Erwartung in ihrem Gesicht, sah es in Freude aufglänzen, als sie mich erkannte, sah ihre Augen mein Gesicht abtasten, als ich näherkam, sah ihre Augen suchen, fragen, unsicher und verletzt schauen und sah ihr Gesicht erlöschen. Als ich bei ihr war, lächelte sie ein freundliches, müdes Lächeln. »Du bist groß geworden, Jungchen.« Ich setzte mich neben sie, und sie nahm meine Hand.

Ich hatte ihren Geruch früher besonders geliebt. Sie roch immer frisch: frisch gewaschen oder nach frischer Wäsche oder nach frischem Schweiß oder frisch geliebt. Manchmal nahm sie Parfum, ich weiß nicht, was für eines, und auch dessen Duft war mehr als alles andere frisch. Unter diesen frischen Gerüchen lag noch ein anderer, ein schwerer, dunkler, herber Geruch. Oft habe ich an ihr geschnüffelt wie ein neugieriges Tier, habe an Hals und Schultern angefangen, die frisch gewaschen rochen, habe zwischen den Brüsten den frischen Schweißgeruch eingesogen, der sich in den Achselhöhlen mit dem anderen Geruch mischte, fand diesen schweren, dunklen Geruch um Taille und Bauch fast pur und zwischen den Beinen in einer fruchtigen Färbung, die mich erregte, habe auch ihre Beine und Füße beschnuppert, die Schenkel, an denen sich der schwere Geruch verlor, die Kniekehlen, noch mal mit leichtem frischem Schweißgeruch, und die Füße, mit dem Geruch von Seife oder Leder oder Müdigkeit. Rücken und Arme hatten keinen besonderen Geruch, rochen nach nichts und rochen doch nach ihr, und in den Handflächen war der Duft des Tages und der Arbeit: die Druckerschwärze der Fahrscheine, das Metall der Zange, Zwiebel oder Fisch oder gebratenes Fett, Waschlauge oder Bügelhitze. Werden sie gewaschen, verraten Hände zunächst nichts von alledem. Aber die Seife hat die Gerüche nur überdeckt, und nach einer Weile sind sie wieder da, schwach, verschmolzen in einen einzigen Tages- und Arbeitsduft, in den Duft des Tages- und Arbeitsendes, des Abends, der Heimkehr und des Daheimseins.