«Keineswegs», widersprach Mr. Entwhistle. «Die Polizei ist alles andere als unfähig. Das dürfen Sie keinen Moment denken.»
«Nun ja, auf jeden Fall übersteigt das alles mein Fassungsvermögen. Und es tut Timothy überhaupt nicht gut. Es wäre wohl zu viel verlangt, dass Sie herkommen, Mr. Entwhistle? Ich wäre Ihnen so dankbar. Ich glaube, es würde Timothy sehr beruhigen, wenn Sie ihm alles erklären könnten.»
Mr. Entwhistle schwieg einen Moment. Die Einladung kam ihm nicht ungelegen.
«Sie haben vielleicht nicht Unrecht», räumte er ein. «Und außerdem brauche ich bei einigen Unterlagen Timothys Unterschrift. Doch, ich denke, das ließe sich machen.»
«Wunderbar. Ich bin sehr erleichtert. Morgen? Und Sie bleiben über Nacht? Die beste Verbindung ist der Zug, der um 11.20 Uhr von St. Pancras geht.»
«Ich fürchte, ich werde einen späteren nehmen müssen», sagte Mr. Entwhistle. «Am Vormittag muss ich mich um etwas anderes kümmern .»
II
George Crossfield begrüsste Mr. Entwhistle herzlich, aber doch ein wenig überrascht.
Zur Erklärung meinte Mr. Entwhistle, obwohl er damit eigentlich nichts erklärte: «Ich komme gerade aus Lytchett St. Mary.»
«Dann war es also wirklich Tante Cora? Ich habe in der Zeitung davon gelesen und konnte es einfach nicht glauben. Ich dachte, es müsste jemand sein, der zufällig genauso heißt.» «Lansquenet ist nicht gerade ein landläufiger Name.»
«Nein, natürlich nicht. Wahrscheinlich will man sich einfach nicht vorstellen, dass jemand aus der eigenen Familie ermordet werden kann. Die Sache klingt ja ganz ähnlich wie der Fall letzten Monat im Dartmoor.»
«Wirklich?»
«Ja. Dieselben Umstände. Ein abgelegenes Cottage, zwei ältere Frauen. Und das bisschen Bargeld, was mitgenommen wurde, war wirklich lächerlich wenig, nicht der Mühe wert, würde man denken.»
«Der Wert von Geld ist immer relativ», gab Mr. Entwhistle zu bedenken. «Es kommt doch ganz darauf an, wie viel man braucht.»
«Tja, wahrscheinlich haben Sie Recht.»
«Wenn Sie dringend zehn Pfund brauchen, sind fünfzehn Pfund mehr als genug. Und umgekehrt - wer hundert Pfund braucht, gibt sich mit fünfundvierzig erst gar nicht ab. Und wenn Sie Tausende von Pfund brauchen, genügen selbst Hunderte nicht.»
Als George antwortete, flackerten seine Augen kurz auf. «Ich denke, dieser Tage kommt jede Summe gelegen. Alle sind doch knapp bei Kasse.»
«Aber niemand ist verzweifelt», widersprach Mr. Entwhistle. «Es kommt auf den Grad der Verzweiflung an.»
«Wollen Sie damit etwas Bestimmtes sagen?»
«Nein, ganz und gar nicht.» Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: «Es wird eine Weile dauern, bis der Nachlass geregelt ist. Hätten Sie gerne einen Vorschuss?»
«Ich hatte das Thema anschneiden wollen, aber ich war heute Morgen auf der Bank und habe den Manager an Sie verwiesen, und da war es kein Problem, einen Kredit zu bekommen.»
Wieder flackerten Georges Augen auf. Mr. Entwhistle kannte das Zeichen aus langjähriger Erfahrung als Notar. Er war überzeugt, dass George dringend, wenn nicht gar verzweifelt Geld gebraucht hatte. In dem Moment wusste er, was er die ganze Zeit untergründig geahnt hatte - dass er George in Gelddingen nicht vertrauen würde. Er fragte sich, ob es Richard Abernethie, der ebenfalls über große Menschenkenntnis verfugt hatte, ähnlich ergangen war. Mr. Entwhistle war ziemlich sicher, dass Richard nach Mortimers Tod geplant hatte, George als seinen Erben und Nachfolger einzusetzen. George war zwar kein Abernethie, aber er war der einzige männliche Nachkomme in der jüngeren Generation. Er war praktisch dazu prädestiniert, an Mortimers Stelle zu treten. Richard Abernethie hatte George mehrere Tage lang zu Besuch nach Enderby gebeten. Wahrscheinlich hatte er ihn gewogen und für zu leicht befunden. Hatte er instinktiv, wie auch Mr. Entwhistle, das Gefühl gehabt, dass George nicht ganz zu trauen war? Nach Familienmeinung hatte Laura mit Georges Vater eine schlechte Wahl getroffen - ein Börsenmakler, der nebenbei etwas dubiose Geschäfte betrieb. George schlug mehr nach seinem Vater als nach den Abernethies.
Möglicherweise missdeutete George das Schweigen des alten Notars, denn er lachte verlegen. «Um ehrlich zu sein, habe ich in letzter Zeit mit meinen Investitionen nicht sehr viel Glück gehabt», sagte er. «Ich habe etwas gemacht, das ein bisschen riskant war, und hab Pech gehabt. Hat mich mehr oder minder das letzte Hemd gekostet. Aber jetzt kann ich die Scharte wieder auswetzen, alles was fehlt, ist ein bisschen Kapital. Ardens Consolidated liegen gut im Rennen, meinen Sie nicht auch?»
Mr. Entwhistle äußerte sich weder positiv noch negativ. Er fragte sich gerade, ob George möglicherweise mit Geld spekuliert hatte, das nicht ihm, sondern Kunden gehörte. Wenn George eine Anklage ins Haus gestanden hatte ...
«Ich habe versucht, Sie am Tag nach der Beerdigung anzurufen, aber offenbar waren Sie nicht in Ihrem Büro», sagte er.
«Ach wirklich? Das wurde mir nie ausgerichtet. Es stimmt, ich dachte, ich hätte mir einen freien Tag verdient, nach der guten Nachricht.»
«Der guten Nachricht?»
George errötete.
«Ach, nein, ich meine natürlich nicht Onkel Richards Tod.
Aber zu wissen, dass man Geld geerbt hat, ist ein großartiges Gefühl. Das muss man doch ein bisschen feiern. Ich bin in Hurst Park gewesen. Hab auf zwei Sieger gesetzt. Ein Glück kommt selten allein! Wenn man eine Glückssträhne hat, klappt einfach alles. Es waren zwar nur fünfzig Pfund, aber immerhin.»
«Natürlich», meinte Mr. Entwhistle. «Immerhin. Und durch den Tod Ihrer Tante Cora bekommen Sie noch mehr Geld.»
George blickte bekümmert.
«Die arme Seele», sagte er. «Es war doch wirklich Pech für sie, nicht? Wo sie sich die Zukunft bestimmt gerade in rosigsten Farben ausgemalt hat.»
«Hoffen wir, dass die Polizei die Person findet, die ihren Tod auf dem Gewissen hat», erwiderte der Notar.
«Bestimmt. Unsere Polizei ist sehr gut. Sie werden alle zweifelhaften Subjekte im Umkreis genau unter die Lupe nehmen und eingehend verhören, was sie zur fraglichen Zeit gemacht haben.»
«Wenn etwas Zeit vergangen ist, wird das gar nicht so einfach sein.» Mr. Entwhistle lächelte sarkastisch, um anzudeuten, dass er gleich einen Scherz machen würde. «Ich selbst war am fraglichen Tag um halb vier bei Hatchard’s im Buchladen. Aber würde ich das noch wissen, wenn die Polizei mich zehn Tage später danach fragen sollte? Das bezweifle ich stark. Und Sie, George, Sie waren in Hurst Park. Würden Sie, sagen wir, in einem Monat noch wissen, an welchem Tag Sie auf der Rennbahn waren?»
«Na ja, das würde ich wissen, weil’s der Tag nach der Beerdigung war.»
«Stimmt, natürlich. Und außerdem haben Sie auf zwei Sieger gesetzt. Auch eine Gedächtnisstütze. Man vergisst ja selten den Namen eines Pferdes, mit dem man Geld gewonnen hat. Wie hießen sie noch?»
«Warten Sie mal - Gaymarck und Frogg II. Doch, das werde ich nicht so schnell vergessen.»
Mr. Entwhistle lachte trocken und verabschiedete sich.
III
«Es ist ja schön, Sie zu sehen», sagte Rosamund ohne große Begeisterung. «Aber es ist noch schrecklich früh.»
Sie gähnte herzhaft.
«Es ist elf Uhr», stellte Mr. Entwhistle fest.
Rosamund gähnte wieder. «Wir haben gestern Abend kräftig gefeiert», meinte sie dann entschuldigend. «Viel zu viel zu trinken. Michael ist grausam verkatert.»
In dem Augenblick erschien Michael, ebenfalls gähnend. Er trug einen eleganten Morgenrock und hatte eine Tasse schwarzen Kaffee in der Hand. Mit seinen hohlen Wangen sah er attraktiv aus, und sein Lächeln war charmant wie immer. Rosamund trug einen schwarzen Rock, einen schmuddeligen gelben Pullover und sonst nichts, soweit Mr. Entwhistle das beurteilen konnte.