Der akkurate Notar, der stets wie aus dem Ei gepellt war, konnte die Lebensweise der jungen Shanes nicht gutheißen. Eine schäbige Wohnung im ersten Stock eines Hauses in Chel-sea, überall Flaschen, Gläser und Zigarettenstummel, abgestandene Luft, Staub und generelle Unordnung.
Inmitten dieser etwas verwahrlosten Umgebung wirkten Rosamund und Michael mit ihrer Schönheit wie das blühende Leben. Sie waren eindeutig ein attraktives Paar und, wie Mr. Entwhistle meinte, einander wirklich zugetan. Auf jeden Fall liebte Rosamund ihren Mann hingebungsvoll.
«Liebling», sagte sie, «was hältst du von einem klitzekleinen Schluck Champagner? Nur, um uns auszunüchtern und auf die Zukunft anzustoßen. Ach, Mr. Entwhistle, wir sind wirklich Glückspilze, dass Onkel Richard uns gerade jetzt das ganze Geld hinterlassen hat ...»
Mr. Entwhistle entging nicht, dass Michael missbilligend das Gesicht verzog, aber Rosamund redete unbekümmert weiter. «Wir haben nämlich Aussicht auf ein wunderbares Stück. Michael hat eine Option darauf. Es wäre eine fantastische Rolle für ihn und sogar eine kleine für mich. Es geht um einen kriminellen Jugendlichen, wissen Sie, der in Wirklichkeit fast ein Heiliger ist - die ganzen modernen Ideen.»
«Den Anschein hat es in der Tat», sagte Mr. Entwhistle steif.
«Er ist ein Dieb, wissen Sie, und ein Mörder, und er wird von der Polizei gejagt, und von der ganzen Gesellschaft - und dann, am Ende, vollbringt er ein Wunder.»
Mr. Entwhistle schwieg empört. Verderbter Unsinn, was dieses junge Volk daherredete. Und schrieb!
Michael Shane redete allerdings wenig. Auf seinem Gesicht lag noch immer ein etwas düsterer Ausdruck.
«Mr. Entwhistle ist nicht gekommen, um uns über die Zukunft schwärmen zu hören, Rosamund», sagte er. «Halt mal eine Weile den Mund und lass ihn erzählen, warum er gekommen ist.»
«Es gibt nur ein oder zwei Dinge, die noch geregelt werden müssen», begann der Notar. «Ich bin gerade aus Lytchett St. Mary zurückgekommen.»
«Dann war es also wirklich Tante Cora, die umgebracht worden ist? Wir haben’s in der Zeitung gelesen. Und ich sagte, es muss meine Tante sein, weil der Name eher ausgefallen ist. Die arme Tante Cora. Bei Onkel Richards Beerdigung habe ich sie angeschaut und mir gedacht, wenn man eine so alte Schachtel ist wie sie, könnte man genauso gut gleich tot sein - und jetzt ist sie wirklich tot. Gestern Abend wollte mir keiner glauben, dass der Mordfall mit dem Beil, der in der Zeitung stand, meine Tante ist! Sie haben nur gelacht, stimmt’s, Michael?»
Michael Shane schwieg. «Zwei Morde nacheinander», fuhr Rosamund mit wachsender Begeisterung fort. «Das ist fast zu viel des Guten, nicht?»
«Red keinen Unsinn, Rosamund. Dein Onkel Richard ist nicht ermordet worden.»
«Cora war anderer Meinung.»
Mr. Entwhistle unterbrach das Gespräch. «Sie sind nach der Beerdigung nach London zurückgefahren, nicht wahr?»
«Ja, mit demselben Zug wie Sie.»
«Ach ja, natürlich ... natürlich. Ich frage nur, weil ich Sie am nächsten Tag anzurufen versuchte ...» Er warf einen Blick aufs Telefon. «Mehrfach sogar, aber es hat nie jemand abgehoben.»
«Oh, das tut mir Leid. Was haben wir denn an dem Tag gemacht? Vorgestern. Bis etwa zwölf Uhr waren wir hier, oder? Und dann bist du los, um zu sehen, ob du Rosenheim erwischst, und bist hinterher mit Oscar Essen gewesen und ich bin einkaufen gegangen. Ich wollte Nylonstrümpfe besorgen und ein paar andere Sachen. Eigentlich war ich mit Jane verabredet, aber wir haben uns verpasst. Stimmt, ich habe einen wunderschönen Einkaufsbummel gemacht an dem Nachmittag, und abends haben wir im Castile gegessen. So um zehn Uhr waren wir wieder hier.»
«Etwa um zehn», stimmte Michael zu. Er betrachtete Mr. Entwhistle nachdenklich. «Weswegen wollten Sie uns anrufen, Sir?»
«Ach, es ging nur um ein paar Kleinigkeiten in Zusammenhang mit Richard Abernethies Testament - eine Unterschrift auf ein paar Dokumenten - derlei Dinge.»
«Bekommen wir das Geld sofort oder müssen wir noch Ewigkeiten darauf warten?», fragte Rosamund.
«Ich fürchte, die Mühlen des Gesetzes mahlen langsam», antwortete Mr. Entwhistle.
Rosamund sah erschrocken auf. «Aber wir können doch einen Vorschuss bekommen, oder nicht? Michael sagte, das ginge. Es ist nämlich sehr wichtig. Wegen des Stücks.»
«Ach, eigentlich eilt es nicht. Es ist nur die Frage, ob wir die Option wahrnehmen oder nicht», widersprach Michael zuvorkommend.
«Es ist gar kein Problem, Ihnen einen Vorschuss zu geben», erklärte Mr. Entwhistle. «So viel Sie brauchen.»
«Dann ist es ja gut.» Rosamund seufzte erleichtert auf. «Hat Tante Cora Geld hinterlassen?», erkundigte sie sich beiläufig.
«Ein bisschen. Sie hat es Ihrer Cousine Susan vermacht.»
«Susan - warum denn ihr? Ist es viel?»
«Ein paar hundert Pfund und einige Möbel.»
«Schöne Möbel?»
«Nein», antwortete Mr. Entwhistle.
Rosamund verlor das Interesse. «Es ist wirklich seltsam, nicht?», sagte sie. «Nach der Beerdigung platzt Cora heraus mit ihrem <Er ist doch ermordet worden!), und keine vierundzwanzig Stunden später wird sie selbst umgebracht. Das ist doch wirklich seltsam, oder nicht?»
Einen Augenblick herrschte unbehagliche Stille. Dann sagte Mr. Entwhistle leise: «Doch, es ist in der Tat sehr seltsam ...»
IV
Mr. Entwhistle musterte Susan Banks, die sich über den Tisch vorbeugte und auf ihre angeregte Art sprach.
Sie hatte nichts von Rosamunds Liebreiz, aber ihr Gesicht war attraktiv, und seine Attraktivität lag in seiner Lebendigkeit, wie Mr. Entwhistle feststellte. Ihre Lippen waren voll und rund - der Mund einer Frau, und ihr Körper war sehr weiblich -ausgesprochen weiblich. Doch in vieler Hinsicht erinnerte Susan ihn an ihren Onkel Richard Abernethie. Ihre Kopfform, ihr Kinn, die tief liegenden, nachdenklichen Augen. Sie hatte dieselbe dominante Persönlichkeit wie Richard, dieselbe unermüdliche Antriebskraft, denselben Weitblick und klaren Verstand. Von den drei Mitgliedern der jüngeren Generation schien nur sie aus dem Holz geschnitzt, aus dem das riesige Vermögen der Abernethies erwachsen war. Hatte Richard in dieser Nichte eine Seelenverwandte gesehen? Zweifellos, glaubte Mr. Entwhistle. Sein Freund war immer ein guter Menschenkenner gewesen. Susan besaß eindeutig die Qualitäten, nach denen er gesucht hatte. Und trotzdem hatte er sein Testament nicht zu ihren Gunsten abgefasst. George hatte er wohl misstraut, vermutete Mr. Entwhistle, die bildhübsche Törin Rosamund hatte er gar nicht erst in Betracht gezogen - aber hätte nicht Susan seinen Erwartungen entsprechen können -eine Erbin seines Schlages?
Wenn nicht, dann musste ihr Mann der Grund sein, das folgte zwingend.
Mr. Entwhistles Blick schweifte unauffällig über Susans Schulter zu Gregory Banks, der unbeteiligt daneben stand und angelegentlich einen Bleistift spitzte.
Er war ein magerer, blasser, unscheinbarer junger Mann mit rötlich blonden Haaren. Er stand derart im Schatten von Susans temperamentvoller Persönlichkeit, dass man ihn selbst kaum fassen konnte. An dem jungen Mann war nichts, das einen neugierig machte - ganz nett, beflissen, ein «Jasager», wie man so schön sagte, und doch schienen diese Ausdrücke ihn nicht hinlänglich zu beschreiben. Gregory Banks’ unauffällige Art hatte etwas, das einem Unbehagen bereitete. Er war eine unpassende Partie gewesen, aber Susan hatte darauf bestanden, ihn zu heiraten, gegen alle Widerstände. Warum? Was hatte sie in ihm gesehen?
Und jetzt, sechs Monate nach der Hochzeit - «Sie ist verrückt nach dem Kerl», dachte Mr. Entwhistle. Ihm waren die Anzeichen nicht fremd. In der Kanzlei Bollard, Entwhistle, Entwhistle and Bollard hatten sich Frauen mit Eheproblemen die Klinke in die Hand gedrückt. Frauen, die unzuverlässige oder scheinbar völlig belanglose Ehemänner anbeteten, Frauen, die gut aussehende und charakterfeste Männer verachteten und sich mit ihnen langweilten. Was eine Frau in einem gegebenen Mann sah, ging über den Verstand eines Mannes durchschnittlicher Intelligenz hinaus. So war es eben. Eine Frau, die in allen anderen Dingen die personifizierte Vernunft war, konnte dumm wie Bohnenstroh sein, wenn es um einen bestimmten Mann ging.