Aber sie hatte ihn sofort wieder erkannt. «Da ist ja Lanscom-be!», hatte sie gesagt und sich offenbar wirklich gefreut, ihn zu sehen. Ach ja, damals hatten sie ihn alle gern gemocht. Bei Abendgesellschaften waren sie immer zu ihm in die Küche hinuntergeschlichen, und er hatte ihnen von der Götterspeise und der Charlotte Russe gegeben, wenn die Schüsseln aus dem Esszimmer zurückgetragen wurden. Sie hatten den alten Lans-combe alle gekannt, aber heute gab es praktisch niemanden mehr, der sich an ihn erinnerte. Jetzt gab es nur das junge Volk, das er nicht auseinander halten konnte und das in ihm einfach einen alten Buder sah, der fast schon zum Inventar gehörte. Ein Haufen Fremder, hatte er gedacht, als sie sich vor der Beerdigung im Haus eingefunden hatten - und obendrein ein ziemlich verwahrloster Haufen Fremder.
Aber nicht Mrs. Leo - die war anders. Sie und Mr. Leo waren nach ihrer Heirat häufiger hier gewesen. Mrs. Leo war eine feine Dame - eine richtige Dame. Sie trug anständige Kleider, hatte eine richtige Haarfrisur und sah aus, wie es sich gehörte. Und der gnädige Herr hatte sie immer gern gehabt. Ein Jammer, dass sie und Mr. Leo nie Kinder bekommen hatten ...
Lanscombe fuhr zusammen. Was dachte er sich bloß dabei, hier rumzustehen und den alten Zeiten nachzuhängen, wo es so viel zu tun gab? Die Rouleaus im Erdgeschoss waren alle offen, und Janet war auf seine Anweisung hin nach oben gegangen, um die Schlafzimmer herzurichten. Er, Janet und die Köchin waren zum Trauergottesdienst in der Kirche gewesen, aber anschließend nicht mit ins Krematorium gefahren, sondern gleich ins Haus zurückgekehrt, um die Rouleaus hochzuziehen und das Mittagessen vorzubereiten. Natürlich wurde nur kalt serviert: Schinken, Hühnchen, Zunge und Salat. Und hinterher kaltes Zitronensoufflé und Apfelkuchen. Vorneweg eine heiße Suppe - er sollte lieber mal nachsehen, ob Marjorie schon so weit war, dass sie gleich serviert werden könnte, denn die Gäste würden in ein oder zwei Minuten bestimmt hier sein.
Im schlurfenden Trab verließ er den Raum. Dabei streifte sein Blick geistesabwesend das Gemälde, das hier über dem Kamin hing - das Gegenstück zum Porträt im grünen Salon. Das Bild brachte den weißen Satin und die Perlen gut zur Geltung, aber die menschliche Gestalt, die das alles trug, war nicht annähernd so eindrucksvoll wie die Person auf dem anderen Gemälde. Nichtssagendes Gesicht, kleiner Mund, Mittelscheitel. Eine bescheidene, unauffällige Frau. Das einzige wirklich Bemerkenswerte an Mrs. Cornelius Abernethie war ihr Name gewesen - Coralie.
Coral Hühneraugenpflaster und die dazugehörigen Fußpflegemittel von Coral waren auch nach über sechzig Jahren seit der Firmengründung noch immer ein Renner. Ob Coral Hühneraugenpflaster je besonders wirksam gewesen waren, konnte niemand sagen - aber sie hatten Anklang beim Publikum gefunden und so den Grundstein zu diesem neogotischen Palast gelegt, zu den weitläufigen Gärten und dem Vermögen, das sieben Söhnen und Töchtern ein beträchtliches jährliches Einkommen gesichert und Richard Abernethie ermöglicht hatte, vor drei Tagen als sehr wohlhabender Mann zu sterben.
II
Als Lanscombe in der Küche ein Wort der Ermahnung sprechen wollte, wies Marjorie ihn scharf zurecht. Marjorie, die Köchin des Hauses, war jung, gerade siebenundzwanzig, und stellte Lanscombes Geduld immer wieder auf die Probe, weil sie überhaupt nicht dem Bild entsprach, das er sich von einer richtigen Köchin machte. Es fehlte ihr an Distinktion, und außerdem achtete sie seine, Lanscombes, Position zu gering. Immer wieder nannte sie das Haus ein «altes Mausoleum» und beschwerte sich über den weitläufigen Küchenbereich, «wo man zwischen Speisekammer und Spülküche eine halbe Tagesreise zurücklegen muss». Sie war seit zwei Jahren in Enderby und nur geblieben, weil sie zum einen gut bezahlt wurde und zum anderen, weil Mr. Abernethie ihre Kochkünste gebührend zu würdigen gewusst hatte. Sie kochte in der Tat sehr gut. Ja-net, die sich am Küchentisch zur Erholung eine Tasse Tee gönnte, war ein älteres Dienstmädchen, das zwar häufig erbitterte Wortkriege mit Lanscombe führte, sich aber gegen die jüngere Generation in Gestalt von Marjorie meist mit ihm verbündete. Die vierte Person, die sich in der Küche befand, war Mrs. Jacks, die nur bei besonderen Anlässen aushalf und der die Beerdigung gut gefallen hatte.
«Es war wunderschön», sagte sie mit einem gebührend sittsamen Schniefen, während sie sich Tee nachschenkte. «Neunzehn Autos, die Kirche war fast voll, und der Pfarrer hat die Messe wunderbar gelesen. Und schönes Wetter, genau richtig für eine Beerdigung. Ach, der arme Mr. Abernethie. Solche wie ihn gibt’s nicht mehr viele. Alle haben sie Respekt vor ihm gehabt.»
Ein Hupen war zu hören und dann ein Auto, das die Auffahrt heraufkam. Mrs. Jacks stellte ihre Tasse ab. «Da sind sie!», rief sie.
Marjorie drehte die Gasflamme unter dem großen Topf mit Hühnercremesuppe höher. Der überdimensionale Kochherd aus den Tagen viktorianischer Pracht stand kalt und unbenutzt da, wie ein der Vergangenheit geweihter Schrein.
Die Wagen fuhren nacheinander vor und die schwarz gekleideten Insassen stiegen aus und gingen zögernd durch die Eingangshalle in den großen grünen Salon. In Anbetracht der ersten frischen Herbsttage brannte im Kamin ein Feuer, und auch wegen der Trauergäste, die nach dem Herumstehen bei der Beerdigung sicher frösteln würden.
Lanscombe betrat den Raum und bot auf einem Silbertablett Gläser mit Sherry an.
Mr. Entwhistle, Seniorpartner der alteingesessenen und angesehenen Firma Bollard, Entwhistle, Entwhistle and Bollard, stand am Feuer und ließ sich den Rücken wärmen. Er nahm ein Glas Sherry entgegen und musterte die Versammelten mit dem scharfen Blick des Notars. Nicht alle Anwesenden waren ihm persönlich bekannt, und er musste sie sozusagen erst zuordnen. Die Vorstellungen vor der Abfahrt zum Trauergottesdienst waren flüchtig und nur im Flüsterton gemacht worden.
Als Erstes betrachtete er den alten Lanscombe. «Der ist schon ziemlich wackelig auf den Beinen», dachte Mr. Entwhistle. «Wenn mich nicht alles täuscht, geht er auf die neunzig zu. Na, er bekommt ja eine nette Leibrente. Der hat ausgesorgt. Treue Seele. So altmodisches Dienstpersonal bekommt man heute gar nicht mehr. Hilfskräfte und Babysitter, was anderes gibt’s nicht. Es ist schon ein Jammer. Ein Segen, vielleicht, dass Richard vor seiner Zeit abgetreten ist. Wahrscheinlich hatte er nichts mehr, was ihn noch am Leben hielt.»
Für Mr. Entwhistle mit seinen zweiundsiebzig Jahren war Richard Abernethies Tod im Alter von achtundsechzig eindeutig verfrüht. Der Notar hatte sich zwei Jahre zuvor aus dem aktiven Geschäft zurückgezogen, aber als Richard Abernethies Testamentsvollstrecker und aus Respekt vor einem seiner ältesten Klienten, mit dem er auch persönlich befreundet gewesen war, hatte er die Reise nach Nordengland auf sich genommen.
Während er im Geiste die Verfügungen des Testaments durchging, betrachtete er die Familienmitglieder.
Mrs. Leo - Helen - kannte er natürlich gut. Sie war eine reizende Dame, die er gerne mochte und auch schätzte. Er betrachtete sie mit Sympathie dort neben dem Fenster. Schwarz stand ihr besonders gut. Sie hatte auf ihre Figur geachtet. Ihm gefielen die klar geschnittenen Züge, der Schwung, mit dem die grauen Haare von den Schläfen nach hinten gekämmt waren, und die Augen, die früher mit Kornblumen verglichen worden und auch heute noch leuchtend blau waren.
Wie alt Helen jetzt wohl sein mochte? Etwa ein- oder zweiundfünfzig, vermutete er. Seltsam, dass sie nach Leos Tod nie wieder geheiratet hatte. Sie war eine attraktive Frau. Aber die beiden waren einander sehr zugetan gewesen.
Sein Blick wanderte weiter zu Mrs. Timothy. Sie kannte er kaum. Schwarz war nicht ihre Farbe - sie war eine Frau für Tweed. Eine kräftige, vernünftige, lebenstüchtige Person, die Timothy immer eine aufopferungsvolle Ehefrau gewesen war. Hatte sich um seine Gesundheit gekümmert, hatte ihn umsorgt - wahrscheinlich etwas zu sehr. Ob Timothy wirklich etwas fehlte? In Mr. Entwhistles Augen war er ein Hypochonder. Der Meinung war Richard Abernethie auch gewesen. «Als Junge ein bisschen schwach auf der Brust, natürlich», hatte er immer gesagt. «Aber dass ihm jetzt noch was fehlt, das glaube ich wirklich nicht.» Nun ja, jeder brauchte ein Steckenpferd, und Timothys Steckenpferd war nun einmal die alles bewegende Frage seiner Gesundheit. Ob Mrs. Tim ihm das wirklich abnahm? Wahrscheinlich nicht - aber solche Sachen gaben Frauen ja nie zu. Timothy musste sein gutes Auskommen haben, er hatte das Geld nie zum Fenster hinausgeworfen. Aber der warme Segen würde ihm durchaus gelegen kommen - vor allem heutzutage mit den hohen Steuern. Seit dem Krieg hatte er seinen Lebensstandard sicher drastisch senken müssen.