George fasste sich als Erster wieder. Er war von Natur aus optimistisch.
«Tante Helen wird bald wieder auf dem Damm sein», sagte er. «Die Ärzte unken gerne. Eine Gehirnerschütterung ist doch keine große Sache. Meistens merkt man nach ein paar Tagen gar nichts mehr.»
«Eine Bekannte von mir hat im Krieg einmal eine Gehirnerschütterung bekommen», erzählte Miss Gilchrist leutselig.
«Sie ging gerade die Tottenham Court Road lang, da ist ihr ein Ziegel auf den Kopf gefallen - das war während der Zeit der Bombenangriffe - und sie hat überhaupt nichts gespürt. Ging einfach weiter - und ist zwölf Stunden später im Zug nach Liverpool zusammengebrochen. Und ob Sie’s glauben oder nicht, sie konnte sich überhaupt nicht daran erinnern, dass sie zum Bahnhof gegangen oder in den Zug gestiegen war, gar nichts. Sie konnte es nicht fassen, als sie in einem Krankenhaus aufgewacht ist. Da musste sie dann fast drei Wochen bleiben.»
«Was ich nicht verstehen kann», sagte Susan, «ist, warum Helen so früh am Morgen schon telefoniert hat. Wen hat sie denn angerufen?»
«Sie hat sich unwohl gefühlt, das muss es gewesen sein.» Maude sprach im Brustton der Überzeugung. «Wahrscheinlich ist sie mit einem komischen Gefühl aufgewacht und nach unten gegangen, um den Arzt anzurufen. Dann hat sie einen Schwächeanfall bekommen und ist umgekippt. Was anderes kann es gar nicht gewesen sein.»
«Reines Pech, dass sie mit dem Kopf ausgerechnet auf den Türhemmer gefallen ist», meinte Michael. «Wenn sie auf dem dicken Teppich gelandet wäre, wäre ihr nichts passiert.»
Die Tür ging auf und Rosamund kam herein. Ihre Stirn war gerunzelt.
«Ich kann nirgends die Wachsblumen finden», sagte sie. «Die, die am Tag von Onkel Richards Beerdigung auf dem Malachittisch standen.» Mit vorwurfsvollem Gesicht sah sie zu Susan. «Du hast sie wohl nicht zufällig weggenommen?»
«Natürlich nicht! Wirklich, Rosamund, du denkst doch nicht immer noch an den Malachittisch, wo die arme Helen gerade mit Gehirnerschütterung ins Krankenhaus gebracht worden ist?»
«Ich weiß nicht, warum ich nicht an die Blumen denken sollte. Wenn man mit Gehirnerschütterung im Krankenhaus liegt, weiß man überhaupt nicht, was um einen herum vor sich geht, und es ist einem auch völlig egal. Wir können Tante Helen nicht helfen, und ich muss morgen mittag wieder in London sein, weil wir uns mit Jackie Lygo treffen, um über Termine für die Premiere von Des Barons Reise zu sprechen. Also würde ich gerne definitiv Bescheid wissen mit dem Tisch. Aber vorher würde ich mir gerne noch mal die Wachsblumen anschauen. Jetzt steht auf dem Tisch eine chinesische Vase, ganz schön, aber im Stil passt sie nicht so ganz. Ich würde wirklich gerne wissen, wo sie hingekommen sind - vielleicht weiß es Lanscombe?»
Der Butler war gerade hereingekommen, um nachzusehen, ob der Frühstückstisch schon abgeräumt werden konnte.
«Wir sind alle fertig, Lanscombe», sagte George und stand vom Tisch auf. «Was ist mit unserem ausländischen Freund?»
«Er lässt sich Kaffee und Toast auf dem Zimmer servieren, Sir.»
«Petit déjeuner für NARCO.»
«Lanscombe, wissen Sie, wo die Wachsblumen sind, die immer auf dem grünen Tisch im Salon standen?», fragte Rosamund.
«Soweit ich weiß, ist Mrs. Leo damit ein kleines Missgeschick passiert. Sie wollte eine neue Glasglocke dafür machen lassen, aber ich glaube, sie hat sie noch nicht bestellt.»
«Wo steht das Ding jetzt?»
«Vermutlich im Schrank hinter der Treppe, gnä’ Frau. Dort werden Gegenstände, die repariert werden müssen, meist aufbewahrt. Soll ich für Sie nachsehen?»
«Ich schaue selbst. Komm mit, Michael, Schätzchen. Da hinter der Treppe ist es so dunkel, und ich habe keine Lust, mich allein in dunklen Ecken rumzutreiben nach dem, was mit Tante Helen passiert ist.»
Alle sahen erschrocken auf.
«Was sagst du da, Rosamund?», fragte Maude in ihrer tiefen Stimme.
«Na ja, ihr hat doch jemand eins übergezogen, oder nicht?»
«Sie ist plötzlich ohnmächtig geworden und umgekippt.» Gregory Banks’ Stimme war scharf.
Rosamund lachte.
«Hat sie dir das gesagt? Sei nicht so dumm, Greg, natürlich hat jemand ihr eins übergezogen.»
Auch Georges Tonfall war scharf. «So was darfst du nicht sagen, Rosamund.»
«Quatsch», erwiderte Rosamund. «Das war garantiert ein Schlag auf den Kopf. Ich meine, das passt doch alles zusammen. Ein Detektiv im Haus, der nach Indizien sucht, Onkel Richard wird vergiftet, Tante Cora wird mit einem Beil umgebracht, Miss Gilchrist bekommt einen vergifteten Hochzeitskuchen, und jetzt hat jemand Tante Helen mit einem stumpfen Gegenstand k.o. geschlagen. Ihr werdet noch sehen, das geht jetzt immer so weiter. Wir werden einer nach dem anderen umgebracht, und derjenige, oder diejenige, die übrigbleibt, ist es dann - der Mörder, meine ich. Aber ich nicht - ich meine, ich gehöre nicht zu denen, die umgebracht werden.»
«Und warum sollte jemand dich umbringen wollen, schöne Rosamund?», fragte George im Spaß.
Rosamund riss die Augen auf.
«Weil ich zu viel weiß, natürlich.»
«Was weißt du?» Maude Abernethie und Gregory Banks sprachen fast einstimmig.
Rosamund lächelte ihr nichtssagendes, bezauberndes Lächeln.
«Das würdet ihr alle zu gerne wissen, nicht?», gab sie freundlich zurück. «Jetzt komm, Michael.»
ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL
I
Für elf Uhr berief Hercule Poirot ein informelles Treffen in der Bibliothek ein. Nachdem sich alle versammelt hatten, betrachtete er nachdenklich die Gesichter, die im Halbkreis um ihn saßen.
«Gestern Abend», begann er, «hat Mrs. Shane Ihnen verkündet, dass ich ein Privatdetektiv bin. Ich selbst, ich hätte meine -sagen wir, Camouflage - noch gerne ein wenig länger aufrechterhalten. Aber so sei es! Heute - oder spätestens morgen -hätte ich Ihnen die Wahrheit gesagt. Und nun, bitte, hören Sie mir aufmerksam zu, was ich Ihnen zu sagen habe.
Ich bin in meiner Branche eine gefeierte Persönlichkeit - eine sehr gefeierte Persönlichkeit, wenn ich das sagen darf. In der Tat, mein Talent ist ohnegleichen!»
George Crossfield grinste. «Gut gebrüllt, Monsieur Pont ... nein, Sie heißen ja Monsieur Poirot, nicht wahr? Nur komisch, dass ich noch nie von Ihnen gehört habe.»
«Das ist nicht komisch», gab Poirot scharf zurück. «Das ist beklagenswert! Heute erhalten junge Menschen keine richtige Bildung mehr. Offenbar wird ihnen nur noch Ökonomie beigebracht und wie man Intelligenztests besteht! Aber um fortzufahren, ich bin seit vielen Jahren mit Mr. Entwhistle befreundet .»
«Er ist also das Haar in der Suppe!»
«Wenn Sie es unbedingt so ausdrücken möchten, Mr. Crossfield, ja. Mr. Entwhistle war sehr bestürzt über den Tod seines alten Freundes Mr. Richard Abernethie. Besonders bestürzt war er über die Worte, die am Tag der Beerdigung von Mr. Abernethies Schwester Mrs. Lansquenet geäußert wurden. Hier, in eben diesem Raum.»
«Sehr töricht - typisch Cora eben», sagte Maude. «Ich hätte Mr. Entwhistle mehr zugetraut, als dass er etwas darauf gibt!»
«Noch mehr bestürzt war Mr. Entwhistle über den - den Zufall, soll ich sagen? - von Mrs. Lansquenets Tod. Ihm ging es nur um eines - er wollte Gewissheit haben, dass es sich bei ihrem Tod wirklich um einen Zufall handelte. In anderen Worten, er wollte bestätigt haben, dass Richard Abernethie eines natürlichen Todes gestorben war. Zu dem Zweck beauftragte er mich, die nötigen Erkundigungen einzuholen.»
Eine Pause entstand.
«Ich habe sie eingeholt ...»
Wieder herrschte Schweigen. Niemand sagte ein Wort.