«Ich habe noch nie Shakespeare gespielt», antwortete Rosamund. «Außer einmal die Jessica im Kaufmann irgendwo in der Provinz. Eine miese Rolle.»
«Aber es fehlt ihr nicht an Pathos. Nie macht die liebliche Musik mich lustig. Sie hatte eine große Last zu tragen, die arme Jessica, die Tochter des verhassten, verachteten Juden. Wie viel Selbstzweifel sie gehabt haben muss, als sie die Dukaten ihres Vaters mitnahm, bevor sie mit ihrem Geliebten davonlief. Jessica mit Gold war eine Sache - Jessica ohne Gold wäre vielleicht eine völlig andere gewesen.»
Rosamund wandte ihm den Kopf zu und betrachtete ihn.
«Ich habe gedacht, Sie wären schon weg.» Ihr Ton klang leicht vorwurfsvoll. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. «Es ist schon nach zwölf.»
«Ich habe den Zug versäumt», sagte Poirot.
«Warum?»
«Sie glauben, ich habe ihn aus einem bestimmten Grund versäumt?»
«Das nehme ich an. Sie sind doch ziemlich korrekt, oder nicht? Wenn Sie einen bestimmten Zug erreichen wollten, würden Sie ihn auch erreichen.»
«Sie haben ein bewundernswertes Urteilsvermögen. Wissen Sie, Madame, ich habe in dem kleinen Sommerhaus gesessen und gehofft, Sie würden mir vielleicht einen Besuch abstatten.»
Rosamund starrte ihn an.
«Warum sollte ich das? Sie hatten sich doch mehr oder minder schon in der Bibliothek von uns verabschiedet.»
«Das hatte ich in der Tat. Und es gibt nichts ... das Sie mir sagen möchten?»
«Nein.» Rosamund schüttelte den Kopf. «Es gibt einiges, worüber ich nachdenken möchte. Wichtige Dinge.»
«Ich verstehe.»
«Ich denke nicht oft nach», fuhr Rosamund fort. «Pure Zeitverschwendung. Aber das, worum es jetzt geht, ist wichtig. Ich finde, man sollte sein Leben so planen, wie man es gerne führen möchte.»
«Und das tun Sie jetzt?»
«Na ja, ja ... Ich habe versucht, eine Entscheidung zu treffen.»
«Über Ihren Mann?»
«In gewisser Hinsicht.»
Poirot wartete einen Augenblick. «Inspector Morton ist gerade eingetroffen», sagte er dann und fügte hinzu, Rosamunds Frage vorwegnehmend: «Das ist der Polizeibeamte, dem die Ermittlungen im Fall von Mrs. Lansquenets Tod übertragen wurden. Er ist hergekommen, weil er von Ihnen allen erfahren möchte, wo Sie am Tag ihres Todes waren.»
«Ich verstehe. Ein Alibi.» Rosamund klang belustigt.
Ihr schönes Gesicht verzog sich zu einem amüsierten Lächeln.
«Das wird Michael einen schönen Schreck einjagen», sagte sie. «Er denkt, ich wüsste nicht, dass er an dem Tag zu der Frau gefahren ist.»
«Woher wussten Sie das?»
«Es ging eindeutig aus der Art hervor, wie er sagte, dass er sich mit Oscar zum Mittagessen treffen würde. So schrecklich beiläufig, wissen Sie, und seine Nase hat ein ganz kleines bisschen gezuckt, wie immer, wenn er lügt.»
«Ich bin von Herzen dankbar, dass ich nicht mit Ihnen verheiratet bin, Madame!»
«Und dann habe ich mich natürlich vergewissert und Oscar angerufen», fuhr Rosamund fort. «Männer stellen sich beim Lügen immer so dumm an!»
«Er ist, fürchte ich, kein sehr treuer Ehemann?» Poirot zögerte mit seiner Frage.
Rosamund widersprach ihm nicht.
«Nein.»
«Aber es stört Sie nicht?»
«Ach, in gewisser Hinsicht ist es lustig», sagte Rosamund. «Ich meine, einen Mann zu haben, den alle anderen Frauen einem wegschnappen wollen. Ich fände es schrecklich, mit einem Mann verheiratet zu sein, den keine andere haben will -wie die arme Susan. Greg ist doch nur ein Waschlappen!»
Poirot musterte sie.
«Und falls es jemandem gelingen sollte - Ihnen Ihren Mann wegzunehmen?»
«Das wird nicht passieren», antwortete Rosamund. «Jetzt nicht mehr», fügte sie hinzu.
«Sie meinen .»
«Jetzt nicht mehr, wo ich das Geld von Onkel Richard habe. Michael verguckt sich in diese Weiber - diese Sorrel Dainton hätte sich ihn beinahe gekrallt, wollte ihn ganz für sich haben -aber für Michael ist die Bühne wichtiger als alles andere. Und jetzt kann er groß rauskommen, kann seine eigene Show auf die Beine stellen. Er kann auch selbst Stücke produzieren und braucht nicht nur zu spielen. Er ist sehr ehrgeizig, müssen Sie wissen, und er ist wirklich gut. Nicht wie ich. Ich stehe schrecklich gern auf der Bühne - aber ich bin schlecht, obwohl ich ganz nett aussehe. Nein, jetzt mache ich mit keine Sorgen mehr wegen Michael. Schließlich ist es mein Geld.»
Sie begegnete Poirots Blick ruhig. Wie erstaunlich, dachte er sich, dass die beiden Nichten Richard Abernethies sich in Männer verliebt hatten und sie innig liebten, obwohl diese Männer ihre Lieben nicht erwidern konnten. Dabei war Rosamund außergewöhnlich schön und Susan war attraktiv und hatte viel Sexappeal. Susan brauchte die Illusion, dass Gregory sie liebte, und klammerte sich daran fest. Rosamund war scharfsichtig und gab sich keinerlei Illusionen hin, aber sie wusste, was sie wollte.
«Die Sache ist, dass ich eine schwerwiegende Entscheidung treffen muss - über die Zukunft», fuhr Rosamund fort. «Michael weiß noch nichts davon.» Ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. «Er hat herausgefunden, dass ich an dem Tag gar nicht beim Einkaufen war, und ist höchst misstrauisch wegen dem Regent’s Park.»
«Was ist mit dem Regent’s Park?» Poirot sah sie verständnislos an.
«Da bin ich gewesen, nachdem ich in der Harley Street war. Nur um ein bisschen spazieren zu gehen und nachzudenken. Michael denkt natürlich, dass ich einen Mann getroffen habe, wenn ich schon einmal in einen Park gehe!»
Rosamund lächelte glückselig. «Das hat ihm gar nicht gefallen!»
«Aber warum sollten Sie nicht in den Regent’s Park gehen?», erkundigte sich Poirot.
«Nur um spazieren zu gehen, meinen Sie?»
«Ja. Tun Sie das sonst nicht?»
«Nein. Warum auch? Weswegen sollte man denn in den Regent’s Park gehen?»
Poirot sah sie an. «Für Sie gibt es in der Tat keinen Grund.» Dann fügte er hinzu: «Ich glaube, Madame, Sie sollten den grünen Malachittisch Ihrer Cousine Susan überlassen.»
Rosamunds Augen weiteten sich.
«Aber warum denn? Ich will ihn haben.»
«Ich weiß, ich weiß. Aber Sie - Sie werden Ihren Mann behalten. Die arme Susan, sie wird ihren verlieren.»
«Ihn verlieren? Sie meinen, Greg ist mit einer anderen Frau durchgebrannt? Das hätte ich ihm nie zugetraut, diesem Kümmerling.»
«Untreue ist nicht die einzige Möglichkeit, einen Mann zu verlieren, Madame.»
«Sie wollen doch nicht sagen ...?» Rosamund starrte ihn an. «Sie glauben doch nicht, dass Greg Onkel Richard vergiftet hat, Tante Cora erschlagen und Tante Helen eins über den Kopf gezogen hat? Das ist lächerlich. Das weiß sogar ich.»
«Wer war es dann?»
«George natürlich. George ist ein Gauner, müssen Sie wissen, er ist in einen Währungsschwindel verstrickt - das weiß ich von ein paar Freunden, die in Monte Carlo waren. Ich vermute, dass Onkel Richard Wind davon bekommen hat und ihn aus dem Testament streichen wollte. Ich habe immer gewusst, dass es George war», schloss sie zufrieden.
VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL
I
Das Telegramm traf gegen sechs Uhr abends ein.
Wie eigens verlangt, wurde es persönlich zugestellt und nicht per Telefon übermittelt. Hercule Poirot, der sich schon geraume Zeit in der Nähe der Haustür herumgetrieben hatte, riss es Lanscombe förmlich aus der Hand, als dieser es vom Boten entgegen nahm.
Mit ebenso untypischer Hast öffnete er das Schreiben. Innen standen drei Worte und eine Unterschrift.
Poirot stieß einen Seufzer der Erleichterung aus.
Dann holte er aus seiner Hosentasche eine Ein-Pfund-Note und reichte sie dem verblüfften Botenjungen.