«Vielleicht wollte er ihr damit nur drohen», meinte Mr. Entwhistle. «Wenn sie sich wehrte ...»
«Dem medizinischen Untersuchungsbericht zufolge deutet nichts auf Gegenwehr hin. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass sie auf der Seite lag und friedlich schlief, als sie überfallen wurde.»
Mr. Entwhistle rutschte unbehaglich auf seinem Stuhl hin und her.
«Man hört ja ab und zu von derart bestialischen und sinnlosen Morden», erwiderte er.
«Aber ja, sicher, und darauf wird es letzten Endes vermutlich auch hinauslaufen. Natürlich ist ein Suchbefehl nach einem Verdächtigen ausgegeben worden. Von den Dorfbewohnern ist es wohl niemand gewesen, da sind wir ziemlich sicher. Alle haben stichfeste Alibis. Zur Tatzeit waren die meisten bei der Arbeit. Ihr Cottage liegt natürlich etwas am Rand des Dorfes an einem einsamen Sträßchen. Jeder hätte also unbemerkt ins Haus gelangen können. Rund ums Dorf gibt es ein Labyrinth von Sträßchen. Es war ein schöner Tag und es hatte seit einigen Tagen nicht geregnet, also gibt es keine eindeutigen Spuren von Autoreifen - falls jemand mit dem Auto kam.»
«Glauben Sie, dass jemand mit dem Auto kam?» Mr. Entwhistle horchte auf.
Der Inspector zuckte die Achseln. «Ich weiß es nicht. Was ich sagen will ist, dass der Fall nicht ganz schlüssig erscheint. Das, zum Beispiel ...» Er schob eine Handvoll Schmuckgegenstände über seinen Schreibtisch - eine mit Perlen besetzte Brosche in der Form eines Kleeblatts, eine mit Amethysten eingelegte Brosche, eine kurze Perlenkette und ein Granat-Armband.
«Das sind die Dinge, die aus ihrem Schmuckkästchen entwendet wurden. Sie lagen in der Hecke direkt vor dem Haus.»
«Ja - das ist in der Tat eigenartig. Vielleicht war der Verbrecher einfach entsetzt über das, was er getan hatte ...»
«Möglicherweise. Aber dann hätte er den Schmuck doch wahrscheinlich oben im Haus gelassen ... obwohl er natürlich auch auf dem Weg von ihrem Schlafzimmer zum Gartentor Panik bekommen haben könnte.»
«Oder das Ganze wurde, wie Sie andeuten, lediglich zur Tarnung gestohlen», ergänzte Mr. Entwhistle leise.
«Ja, es gibt mehrere Möglichkeiten . Natürlich kann es auch diese Gilchrist gewesen sein. Zwei Frauen, die in einem Haus zusammenleben - was weiß man von den Streitigkeiten, den Ressentiments oder Leidenschaften, die es zwischen ihnen gegeben hat? O doch, wir ziehen auch diese Möglichkeit in Betracht. Aber es ist eher unwahrscheinlich. Soweit wir wissen, war der Umgang zwischen den beiden recht freundschaftlich.» Er zögerte, bevor er fortfuhr. «Und Sie sagen, dass niemand von Mrs. Lansquenets Tod profitieren wird?»
Der Notar rutschte wieder auf seinem Stuhl umher.
«Das habe ich nicht gesagt.»
Inspector Morton sah überrascht auf.
«Ich dachte, Sie hätten gesagt, dass Mrs. Lansquenets Einkommen aus einer jährlichen Zuwendung von ihrem Bruder bestand und dass sie, Ihres Wissens, selbst kein Vermögen oder sonstige Werte besaß.»
«Das stimmt auch. Ihr Mann starb völlig mittellos, und so, wie ich sie als Mädchen kannte, würde es mich wundern, wenn sie jemals Geld gespart oder etwas beiseite gelegt hätte.»
«Ihr Haus ist nur gemietet und gehört ihr nicht selbst», berichtete der Inspector weiter. «Und die paar Möbel sind nichts Besonderes, selbst nach heutigen Maßstäben nicht. Landhausstil in nachgemachter Eiche und ein bisschen bunt bemaltes Kunstgewerbe. Wem immer sie das vererbt hat, reich wird er damit nicht - falls sie überhaupt ein Testament gemacht hat.»
Mr. Entwhistle schüttelte den Kopf.
«Von einem Testament weiß ich nichts. Aber ich hatte sie seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.»
«Was meinten Sie dann vorhin mit Ihrer Bemerkung? Sie hatten doch sicher etwas Bestimmtes im Sinn.»
«Ja. Ja, in der Tat. Ich wollte nur ganz genaue Angaben machen.»
«Haben Sie sich damit auf die erwähnte Erbschaft bezogen? Die von ihrem Bruder? Konnte sie denn testamentarisch dar-über verfügen?»
«Nein, nicht so, wie Sie denken. Über das Kapital selbst hatte sie keine Verfügungsgewalt. Jetzt, nach ihrem Tod, wird es unter den fünf anderen Erben von Richard Abernethies Testament aufgeteilt. Das meinte ich mit meiner Bemerkung. Von ihrem Tod profitieren automatisch alle fünf.»
Der Inspector blickte enttäuscht drein.
«Ach, und ich dachte, wir würden da vielleicht auf eine Spur stoßen. Aber von der Seite hat wohl niemand ein Motiv, sie mit einem Beil zu erschlagen. Sieht so aus, als wär’s ein Kerl gewesen, der nicht ganz richtig im Kopf ist - vielleicht einer von diesen kriminellen Halbstarken, von denen gibt’s ja viele. Und dann hat er die Nerven verloren und den Schmuck weggeworfen und Fersengeld gegeben ... Ja, so muss es gewesen sein. Außer, es war die höchst ehrbare Miss Gilchrist, aber das ist wohl eher unwahrscheinlich.»
«Wann hat sie die Leiche entdeckt?»
«Erst gegen fünf. Sie kam mit dem 4.50-Uhr-Bus aus Rea-ding zurück. Sie ging zum Cottage, durch die Vordertür ins Haus und gleich in die Küche, um Teewasser aufzusetzen. Von Mrs. Lansquenet hat sie nichts gehört, aber sie dachte, sie würde wohl noch schlafen. Dann erst hat sie das eingeschlagene Küchenfenster bemerkt, die Scherben lagen überall am Fußboden. Aber selbst da dachte sie noch, das wäre ein Junge mit einem Ball oder einem Katapult gewesen. Sie ging nach oben und schaute leise in Mrs. Lansquenets Zimmer, ob sie noch schlief oder vielleicht eine Tasse Tee wollte. Dann hat sie natürlich einen Schock bekommen, hat geschrien und ist zum nächsten Nachbarn gelaufen. Ihre Geschichte klingt glaubwürdig, und in ihrem Zimmer und im Bad war keine Spur von Blut, auch nicht auf ihren Kleidern. Nein, ich glaube nicht, dass Miss Gilchrist etwas damit zu tun hat. Der Arzt ist um halb sechs gekommen. Er legte die Todeszeit auf spätestens vier Uhr dreißig fest, aber wahrscheinlich eher gegen zwei. Es sieht also aus, als hätte der Täter, wer immer es war, in der Nähe gewartet, bis Miss Gilchrist das Haus verließ.»
Im Gesicht des Notars zuckte ein Muskel.
«Ich nehme an, dass Sie zu Miss Gilchrist fahren werden?», fuhr Inspector Morton fort.
«Das habe ich mir überlegt, ja.»
«Ich wäre sehr froh, wenn Sie das täten. Ich glaube, sie hat uns alles erzählt, was sie weiß, aber sicher kann man nie sein. Manchmal taucht im Gespräch der eine oder andere Hinweis auf. Sie ist ein bisschen altjüngferlich, aber eine sehr vernünftige, praktische Person - und sie ist wirklich überaus hilfsbereit gewesen.»
Nach einer Pause fügte er hinzu: «Die Leiche liegt in der Leichenhalle. Wenn Sie sie sehen möchten ...»
Mr. Entwhistle willigte ein, wenn auch mit einigem Unbehagen.
Einige Minuten später stand er vor den sterblichen Überresten von Cora Lansquenet. Sie war brutal überfallen worden, ihre mit Henna gefärbten Ponyfransen waren blutverklebt. Mr. Entwhistle presste die Lippen zusammen und sah beiseite; ihm war flau im Magen.
Die arme kleine Cora. Wie eifrig sie zwei Tage zuvor gefragt hatte, ob ihr Bruder ihr etwas hinterlassen hätte. Die Träume, die sie sich für die Zukunft ausgemalt haben musste! Mit dem Geld hätte sie jede Menge Dummheiten anstellen - und genießen - können.
Die arme Cora ... Wie kurz ihre Freude gewährt hatte.
Niemand hatte durch ihren Tod etwas gewonnen - nicht einmal der Mörder, der den erbeuteten Schmuck auf der Flucht weggeworfen hatte. Fünf Menschen bekamen ein paar tausend Pfund mehr - aber mit der Summe, die sie bereits geerbt hatten, besaßen sie vermutlich schon mehr als genug. Nein, da war kein Motiv zu finden.