Draußen wurde es Abend, und ungeachtet dessen, dass gleich nebenan das Großstadtleben tobte, war es still und ruhig. Vielleicht sogar ruhiger als zur selben Zeit im Dorf Kroschkino, wo mit dem Einfall der Dämmerung die Hofhunde dreist wurden, sobald man sie nicht mehr sehen konnte, und ihre bellende Unterhaltung begannen, in der sie einander erzählten, wer von ihnen einen wie großen Knochen erhalten hatte. Dort würde das Gebell jetzt bis Mitternacht andauern, bis ihre Besitzer, die schon ganz benommen davon waren, ihre Köter beschimpfen würden, worauf der Stock zu folgen drohte, und nachdem die Hunde das selbstverständlich wussten, würden sie rechtzeitig verstummen und ihre Schnauzen in die warme Erde stecken.
Mit einem Mal erwachte Genosse Kalinin wieder, ging um seinen Schreibtisch herum und zog aus einer Schublade ein Büchlein hervor, das er Pawel überreichte.
„Lenin für Kinder“, las Pawel den Titel und betrachtete den Umschlag, auf dem der große Führer auf einer Bank abgebildet war, umringt von einer Kinderschar.
„Lass dich nicht vom Titel beirren“, sagte Genosse Kalinin mit ermüdeter Stimme. „Dieses Buch wirst du gut gebrauchen können! Eigentlich ist es nicht nur für Kinder. Ich habe dir jetzt so ziemlich alles gesagt. Morgen Nachmittag wird man dir auf dem Flughafen den Sattel überreichen. Und jetzt fahr nach Hause und ruh dich aus…“
„Und was ist mit dem weißen Pferd?“, fragte Pawel leise und wurde sogleich verlegen wegen seiner vorlauten Frage.
„Das Pferd?“, wiederholte Genosse Kalinin. „Das Pferd wird ebenfalls zum Flughafen gebracht. Es ist hier, in den Kreml-Stallungen. In Ordnung?“
Pawel spürte einen Wunsch in sich aufsteigen, den er dem Genossen Kalinin nicht verschweigen mochte. Aber er wusste nicht, wie er es sagen sollte, da er keine zweite dreiste Frage stellen wollte.
„Na, warum schweigst du? Ich sehe doch, dass du etwas auf dem Herzen hast?“, bemerkte Genosse Kalinin aufmerksam.
„Ja, also… ich…“
„Na, heraus damit!“
„Ich würde gerne, Genosse Kalinin…“
„Nenn mich doch bei meinem Vornamen, wir sind jetzt gleichgestellt!“
„Also… Michail, ich würde gern auf diesem Pferd vom Kreml zum Flughafen reiten…“
„Jaaa…“, sagte Genosse Kalinin. „Was für ein Wunsch, das sage ich dir!“
„Aber nur, wenn es möglich ist, wenn nicht, dann…“
„Sofort!“, unterbrach ihn Kalinin und ging zum Telefon. „He, Wasja!“, sagte er zu jemandem. „Ist für morgen eine Eskorte frei? Ja? Gut. Dann ordne an, dass sie gegen zwölf am Erlösertor bereitsteht! – Na bitte.“ Genosse Kalinin legte den Hörer auf und blickte den Volkskontrolleur an. „Erledigt. Du sollst deinen Ritt haben!“
„Danke!“ Pawels Augen leuchteten und er konnte gerade noch den Drang in sich bezähmen, Genosse Kalinin zu umarmen und zu küssen.
„Bedanke dich später! Das Wichtigste ist, das Vaterland zu lieben und alles für sein Wohl zu unternehmen! Das ist alles, geh! Nein, warte, sag mir noch, warum du eine Axt mitgenommen hast?“
„Meine Frau hat sie mir auf die Reise mitgegeben“, erklärte Pawel und erhob sich vom Tisch.
„Sieh mal einer an!“, grinste Genosse Kalinin. „Was für eine tüchtige Frau! Sie hat recht! Hier ist das Leben so… ja…“
Hinter der Tür zum Flur stand ein Rotarmist, der Dobrynin zum Wagen hinunterbrachte. Viktor Stepanowitsch war nicht da. Nur der Chauffeur saß darin, schläfrig und schweigsam. Die ganze Fahrt über sagte er kein Wort. Erst als der Wagen vor dem Hauseingang hielt, erinnerte er Pawel daran, dass seine Wohnung die Nummer drei habe.
Der diensthabende Hausmeister öffnete Pawel die Eingangstür. Dobrynin stieg in den zweiten Stock hinauf und ihm fiel der Schlüssel ein, den ihm der Hausmeister gegeben hatte. Er fand ihn in seiner Hosentasche und schloss die Tür auf. Seinen Reisesack ließ er im Vorzimmer stehen, das Buch „Lenin für Kinder“ aber nahm er mit sich und ging weiter ins Arbeitszimmer.
Er schaltete die Lampe mit dem grünen Lampenschirm ein und es wurde richtig gemütlich in diesem freundlichsten aller Zimmer in der Wohnung. Es herrschte vollkommene Stille, die ihn auf ernsthafte Gedanken einstimmte. Er setzte sich also an den Schreibtisch, schlug die erste Seite des Büchleins auf, das er im Kreml geschenkt bekommen hatte, und begann zu lesen.
Nachdem er die erste Erzählung über Lenin gelesen hatte, beschloss Pawel, es dabei erst einmal bewenden zu lassen, vor allem, um ein wenig über Sinn und Moral dieser Erzählung nachzudenken. Es wurde beschrieben, wie Lenin eines Tages in das Haus von Küstenfischern einer Volksgruppe im Norden geriet. Er kam als Gast dorthin, und sogleich deckten die Gastgeber den Tisch und warteten Wladimir Iljitsch ihre Nationalsuppe auf, die einem europäischen Menschen selbstverständlich nicht schmecken konnte. Aber Lenin sagte nichts davon, sondern bedankte sich nur für die Bewirtung. Und sie schlossen daraus, dass Lenin diese Suppe sehr mochte und boten noch mehr davon an und füllten, kurz gesagt, seinen Teller wieder an. Und auch da sagte Lenin nichts und aß alles auf, wie es ihm seine Eltern noch im fernen Simbirsk beigebracht hatten. Da tat natürlich die Erziehungsmethode der Familie Uljanow, den Teller leer zu essen, ihre Wirkung, aber nicht allein das.
„Ja“, dachte Pawel zu guter Letzt. „Man hat mir dieses Buch nicht umsonst geschenkt. Ich werde ja in den Norden geschickt… Das bedeutet, dass ich die Nationalsuppen und andere Gerichte dort achten muss…“
Die Müdigkeit verlangsamte den Prozess des Denkens und Pawel fühlte, wie er einzunicken begann. Und da er nicht im Sitzen schlafen wollte, ging er ins Schlafzimmer, nachdem er seine Kleider im Arbeitszimmer gelassen hatte. Er schloss die Tür hinter sich und blieb einige Minuten stehen, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Das große, weiße Quadrat des Bettes trat aus der Finsternis der Nacht hervor, und Pawel bemerkte bald, dass seine dienstliche Frau auf der näher zur Tür gelegenen Seite lag. Er ging also um das Bett herum, legte sich auf die andere Seite und ließ dabei nicht weniger als einen Meter Platz zwischen sich und seiner Frau. Er deckte sich mit dem Rand der Bettdecke zu und spürte die Wärme, die ihn wie Watte umhüllte, und er schlief ein, indem er sich mit einem Lächeln von diesem erstaunlich märchenhaften Tag verabschiedete, der gerade zur Vergangenheit wurde.
Kapitel 8
In einer der Schulen Moskaus, die sich in der Dajew-Gasse bei der Sretenka-Straße befand, läutete die Glocke zur siebenten Stunde fünf Minuten früher als sonst, und buchstäblich eine Minute später öffneten sich die Klassentüren und Jungen und Mädchen in weißen Hemdblusen mit sorgfältig gebundenen, tiefroten Halstüchern traten geordnet auf den breiten, hellen Korridor hinaus. Rasch stellten sie sich gruppenweise auf, wie das in solchen Fällen üblich war. Der Direktor der Schule, Wasilij Wasiljewitsch Banow, schritt die Reihen der Pioniere entlang, während er mit strengem Blick das Äußere der Schüler musterte. Dann kehrte er zurück zur Mitte des Korridors, und nachdem er vernommen hatte, dass die Klassengruppen zum Appell bereit seien, sagte er:
„Nun also: Beim Lernen und für andere Leistungen der letzten Woche hat die Pioniergruppe der 5A-Klasse den ersten Platz gemacht, und als Prämie darf diese Gruppe heute den Deputiertenkandidaten für den Obersten Sowjet der RSFSR Grigorij Markelowitsch Siljin treffen.“
Die Pioniere hielten den Atem an. Sie vermochten den Blick nicht von dem Schuldirektor abzuwenden. Dieser trug einen dunklen Anzug, der jedoch an ihm etwas plump wirkte, und auf dem Revers prangte ein Stern des Ordens der Roten Fahne, an dem die Blicke der Knaben immer wieder voll Neid und Bewunderung hängen blieben.