„Berichten Sie mir über den Stand der Erntearbeiten!“, wandte sich Genosse Pawljuk an die Mitglieder des Parteibüros, während er seinen Tee schlürfte.
„Bei uns ist alles in Ordnung“, antwortete einer von ihnen. Das wiederholten auch die anderen.
„Gut so“, nickte der Vorgesetzte zufrieden. „So muss man arbeiten!“
Dann sprach Genosse Pawljuk mit den Mitgliedern des Parteibüros über die Aussichten, in der Stadt ein Ziegelwerk zu bauen. Pawel hörte ihnen mit halbem Ohr zu, um Kenntnisse zu erwerben, während er sich gar nicht von den köstlichen braunen Kringeln losreißen konnte, die einfach auf der Zunge zergingen. Es kam ihm vor, als ob ihm das neue, verantwortungsvolle Leben, das vor zwei Tagen begonnen hatte, noch viele solcher Kringel in Aussicht stellen würde. Außerdem glaubte Pawel, dass, je größer die Verantwortung eines Menschen war, das Vaterland desto besser für ihn und seine Gesundheit sorgte, und das schien ihm gerechtfertigt.
„Also dann“, wandte sich Genosse Pawljuk plötzlich an Pawel, nachdem er einen Blick auf seine Armbanduhr geworfen hatte. „Ihr Zug fährt in einer Stunde. Dass Sie sich nur nicht verspäten…“
„Zug?“, wiederholte der erstaunte Pawel fragend, der nichts von einem Zug wusste.
„Ach, entschuldigen Sie, ich habe es Ihnen gar nicht gesagt!“, besann sich Genosse Pawljuk. „Ihr Zug in die Hauptstadt… Man hat Ihnen doch gesagt, dass man Sie dort erwartet?“ Pawel nickte.
„Also dann…“, Pawljuk breitete die Arme aus. „Schade, dass Sie nur so kurz bei uns in Manajenkowsk waren, aber wer weiß, vielleicht führt Sie das Schicksal noch einmal her… Wir würden uns freuen.“
Hierauf bestellte Genosse Pawljuk per Telefon einen Wagen und begleitete Dobrynin höchstpersönlich die Marmorstiege hinunter.
Auto und Chauffeur waren dieselben. Dieses Mal begrüßten Pawel und der Chauffeur einander bereits wie alte Bekannte.
Wieder fuhren sie schweigend dahin. Aber dieses Mal hatte Pawel selbst keine Lust zu reden. Immer noch war er damit beschäftigt, die Stadt zu betrachten, und staunte über ihr Aussehen.
„Gleich fahren wir an unserem Theater vorbei!“, sagte der Chauffeur voller Stolz.
Pawel hielt sich bereit.
Aber das Theater sahen sie auch nicht, da die Straße vor ihnen wieder aufgrund der Arbeiten an dem Vakuum-Müllschacht aufgegraben war. Der Chauffeur stieß ein weiteres Mal einen kurzen Fluch aus und brachte Pawel auf Umwegen zum Bahnhof, wo er ihn in den Zug setzte, der zur Abfahrt bereitstand.
Der Zug gefiel Paweclass="underline" Er bestand aus einer Lokomotive und nur zwei Passagierwaggons. Unmittelbar vor der Abfahrt wurde allerdings ein weiterer Waggon angehängt, aber er konnte ihn nicht genau sehen.
Die Räder ratterten gemütlich, und Pawel saß in seinem Abteil und sah aus dem Fenster in den zu Ende gehenden Tag.
Morgen würde ein neuer Tag beginnen, und die Tatsache, dass Pawel diesen neuen Tag unterwegs beginnen würde, schien bemerkenswert und bedeutungsvoll.
Eine junge Frau mit Eisenbahnkappe kam ins Abteil und brachte Tee.
„Hätten Sie denn vielleicht auch Weißbrotkringel?“, fragte Pawel sie.
„Wo denken Sie hin, Genosse!“, wunderte sich die Frau. „Woher sollen wir hier Kringel nehmen?“
Pawel nickte, bedankte sich für den Tee, trank einen Schluck und fand heraus, dass der Tee nicht süß war, wollte diese Frau aber nicht um Zucker bitten.
Nach einer halben Stunde kam die Frau mit einem Stapel Zeitungen wieder.
„Möchten Sie lesen?“, fragte sie.
„Ja, bitte“, antwortete Pawel.
„Sind drei genug?“, fragte die Frau.
„Ja“, sagte Pawel.
Die Schaffnerin zählte drei Zeitungen ab, legte sie auf das Tischchen und ging fort.
Im Schein des matten Lämpchens, das aus unbekannter Quelle Strom bezog, las Pawel aufmerksam die Zeitungen, die man ihm gebracht hatte, und erfuhr aus ihnen eine derartige Fülle von allem Möglichen, dass sich seine Vorstellung vom Leben und von seinem Vaterland mit jedem gelesenen Wort erweiterte. In ihm entstand das Gefühl, als ob er mit dem Zug mitten durch eine riesige Gigantenstadt fahren würde, die sich erst im Aufbau befand und in der zwar noch keine Menschen lebten, aber wo bereits aus Leibeskräften gearbeitet wurde und alle möglichen Weltrekorde, in den Bereichen der Bohrarbeiten, der Kohleförderung, im Brotbacken und im Schmelzen verschiedenster Metalle, gebrochen wurden.
Vom Lesen ein wenig ermüdet beschloss er, in einer der Zeitungen die Gesichter der neuen Ordensträger zu betrachten, die im Kreml ausgezeichnet worden waren, aber kaum hielt er das Gruppenfoto vor seine Augen, als das Lämpchen im Abteil erlosch. Draußen war es schon dunkel, und so legte Pawel die Zeitungen auf das Tischchen und machte es sich auf der unteren Liege bequem. Nachdem er sich mit der warmen Wattedecke zugedeckt hatte, schlief er ein.
Kapitel 6
Der Pfad führte den Engel immer weiter bis zu einem an den Wald grenzenden kleinen Dorf, wo er in einen Fahrweg mündete. Dieser Weg war die einzige Straße im Dorf, nach der alle Hütten, von denen es nicht mehr als zwei Dutzend gab, ihre Fenster ausgerichtet hatten. Hinter dem Dorf verlief der Weg weiter an Wiesen entlang und verlor sich irgendwo dazwischen.
„Hier ist also die erste Siedlung!“, dachte der Engel.
Der Abend war nah. Im Hof der nächstgelegenen Hütte hängte eine Frau Wäsche zum Trocknen auf. Der Engel trat an den Zaun heran und grüßte, sie aber lief, nachdem sie ihn gesehen hatte, ohne auf seinen Gruß zu antworten ins Haus.
Der Engel wollte gerade kehrtmachen, um mit der Bitte um Essen und ein Nachtquartier zu einer anderen Hütte zu gehen, als ihn die Stimme eines Mannes anrief.
„Komm doch her!“ Der Mann war klein und trug eine Hose aus grobem Leinenstoff und ein graues Leinenhemd, das mit einer Schnur gegürtet war. „Bist du ein Flüchtling?“
Der Engel trat näher.
„Ich würde gerne bei Ihnen übernachten…“, sagte er und sah den Hausherrn freundlich an.
„Ein Flüchtling…“, sagte der Mann nachdenklich und betrachtete die Rotarmisten-Uniform des Engels. „Na komm rein!“
Der Boden im Flur war erdig vom Schmutz, der mit den Stiefeln hereingetragen worden war. Der Herr des Hauses zog selbst die Schuhe aus und bat auch den Engel, die Stiefel auszuziehen, als er plötzlich bemerkte, dass der Gast barfuß gekommen war. Er wunderte sich, wühlte in einer Truhe, die dort stand, holte schmale und ein wenig kurze Stiefel hervor und reichte sie dem Engeclass="underline"
„Zieh die an!“
Der Engel zog sie gehorsam an und stampfte damit auf dem Boden herum.
„Und, wie sind sie?“, fragte der Hausherr und schaute auf die Füße des Gastes.
„Gut“, antwortete der Engel.
Die Stiefel waren etwas zu groß, aber die heimliche Freude des Engels, auf solch eine Güte zu stoßen, war noch größer.
Sie gingen in die Stube, wo die Hausfrau schon am russischen Ofen geschäftig war und mit dem Schürhaken einen großen Topf näher an das Feuer rückte.
„Gleich ist alles fertig“, sagte sie.
Der Gast ließ sich auf der Bank nieder und blickte um sich, um das Zimmer zu mustern. Die Behausung war sauber und ordentlich; ein breites Bett stand ums Eck hinter dem russischen Herd und war mit einem mit roten Hähnen bestickten Überwurf bedeckt. Auf dem Tisch lag schon Brot.
Der Gastgeber warf einen Blick ins Zimmer, lächelte seinem Gast zu und verschwand wieder im Flur. Er ging offenbar auf den Hof hinaus, denn die Haustür fiel ins Schloss.
Während sich der Engel in der Stube umsah, ging eine kleine Lampe an, die von der Decke hing, und verbreitete mattes Licht. Gleich darauf war wieder die Tür im Flur zu hören und der Hausherr erschien, zufrieden, jedoch mit ernster Miene. Er warf einen Blick auf die Lampe, wandte sich dann an seinen Gast und erklärte, dass ein Vogel das Stromkabel abgerissen habe und er deshalb einen Knoten habe knüpfen müssen, damit wieder elektrischer Strom in die Hütte kam.