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255

Die Hypochonder. — Der Hypochonder ist ein Mensch, der gerade genug Geist und Lust am Geiste besitzt, um seine Leiden, seinen Verlust, seine Fehler gründlich zu nehmen: aber sein Gebiet, auf dem er sich nährt, ist zu klein; er weidet es so ab, daß er endlich die einzelnen Hälmchen suchen muß. Dabei wird er endlich zum Neider und Geizhals — und dann erst ist er unausstehlich.

256

Zurückerstatten. — Hesiod rät an, dem Nachbar, der uns ausgeholfen hat, mit gutem Maße und womöglich reichlicher zurückzugeben, sobald wir es vermögen. Dabei hat nämlich der Nachbar seine Freude, denn seine einstmalige Gutmütigkeit trägt ihm Zinsen ein; aber auch der, welcher zurückgibt, hat sein Freude, insofern er die kleine einstmalige Demütigung, sich aushelfen lassen zu müssen, durch ein kleines Übergewicht, als Schenkender, zurückkauft.

257

Feiner als nötig. — Unser Beobachtungssinn dafür, ob andere unsere Schwächen wahrnehmen, ist viel feiner, als unser Beobachtungssinn für die Schwächen anderer: woraus sich also ergibt, daß er feiner ist, als nötig wäre.

258

Eine lichte Art von Schatten. — Dicht neben den ganz mächtigen Menschen befindet sich fast regelmäßig, wie an sie angebunden eine Lichtseele. Sie ist gleichsam der negative Schatten, den jene werfen.

259

Sich nicht rächen? — Es gibt so viele feine Arten der Rache, daß einer der Anlaß hätte sich zu rächen, im Grunde tun oder lassen kann, was er wilclass="underline" alle Welt wird doch nach einiger Zeit übereingekommen sein, daß er sich gerächt habe. Sich nicht zu rächen steht also kaum im Belieben eines Menschen: daß er es nicht wolle, darf er nicht einmal aussprechen, weil die Verachtung der Rache als eine sublime, sehr ernpfindliche Rache gedeutet und empfunden wird — Woraus sich ergibt, daß man nichts Überflüssiges tun soll –

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Irrtum der Ehrenden. — Jeder glaubt einem Denker etwas Ehrendes und Angenehmes Zu sagen wenn er ihm zeigt, wie er von selber genau auf denselben Gedanken und selbst auf den gleichen Ausdruck geraten sei; und doch wird bei solchen Mitteilungen der Denker nur selten ergötzt, aber häufig gegen seinen Gedanken und dessen Ausdruck mißtrauisch: er beschließt im Stillen, beide einmal zu revidieren. — Man muß, wenn man jemanden ehren will, sich vor dem Ausdruck: der Übereinstimmung hüten: sie stellt auf ein gleiches Niveau. — In vielen Fällen ist es die Sache der gesellschaftlichen Schicklichkeit, eine Meinung so anzuhören, als sei sie nicht die unsrige, ja als ginge sie über unsern Horizont hinaus: zum Beispiel wenn der Alte, Alterfahrene einmal ausnahmsweise den Schrein seiner Erkenntnisse aufschließt.

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Brief. — Der Brief ist ein unangemeldeter Besuch, der Briefbote der Vermittler unhöflicher Überfälle. Man sollte alle acht Tage eine Stunde zum Briefempfangen haben und darnach ein Bad nehmen.

262

Der Voreingenommene. — Jemand sagte: ich bin gegen mich voreingenommen, von Kindesbeinen an: deshalb finde ich in jedem Tadel etwas Wahrheit und in jedem Lobe etwas Dummheit. Das Lob wird von mir gewöhnlich zu gering und der Tadel zu hoch geschätzt.

263

Weg zur Gleichheit. — Einige Stunden Bergsteigens machen aus einem Schuft und einem Heiligen zwei ziemlich gleiche Geschöpfe. Die Ermüdung ist der kürzeste Weg zur Gleichheit und Brüderlichkeit — und die Freiheit wird endlich durch den Schlaf hinzugegeben.

264

Verleumdung. — Kommt man einer eigentlich infamen Verdächtigung auf die Spur, so suche man ihren Ursprung nie bei seinen ehrlichen und einfachen Fein- den; denn diese würden, wenn sie so etwas über uns erfänden, als Feinde keinen Glauben finden. Aber jene, denen wir eine Zeitlang am meisten genützt haben, welche aber, aus irgend einem Grunde, im Geheimen sicher darüber sein dürfen, nichts mehr von uns zu erlangen, — solche sind imstande, die Infamie ins Rollen zu bringen: sie finden Glauben, einmal weil man annimmt, daß sie nichts erfinden würden, was ihnen selber Schaden bringen könnte; sodann weil sie uns näher kennengelernt haben. — Zum Troste mag sich der so schlimm verleumdete sagen: Verleumdungen sind Krankheiten anderer, die an deinem Leibe ausbrechen; sie beweisen, daß die Gesellschaft ein (moralischer) Körper ist, so daß du an dir die Kur vornehmen kannst, die den Anderen nützen soll.

265

Das Kinder-Himmelreich. — Das Glück des Kindes ist ebenso sehr ein Mythus wie das Glück der Hyperboreer, von dem die Griechen erzählten. Wenn das Glück überhaupt auf Erden wohnt, meinten diese, dann gewiß möglichst weit von uns, etwa dort am Rande der Erde. Ebenso denken die älteren Menschen: wenn der Mensch überhaupt glücklich sein kann, dann gewiß möglichst fern von unserem Alter, an den Grenzen und Anfängen des Lebens. Für manchen Menschen ist der Anblick der Kinder, durch den Schleier dieses Mythus hindurch, das größte Glück, dessen er teilhaftig werden kann; er geht selber bis in den Vorhof des Himmelreichs, wenn er sagt» lasset die Kindlein zu mir kommen, denn ihrer ist das Himmelreich«. — Der Mythus vom Kinder-Himmelreich ist überall irgendwie tätig, wo es in der modernen Welt etwas von Sentimentalität gibt.

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Die Ungeduldigen. — Gerade der Werdende will das Werdende nicht: er ist zu ungeduldig dafür. Der Jüngling will nicht warten, bis, nach langen Studien, Leiden und Entbehrungen, sein Gemälde von Menschen und Dingen voll werde: so nimmt er ein anderes, das fertig dasteht und ihm angeboten wird, auf Treu und Glauben an, als müsse es ihm die Linien und Farben seines Gemäldes vorweg geben, er wirft sich einem Philosophen, einem Dichter ans Herz und muß nun eine lange Zeit Frondienste tun und sich selber verleugnen. Vieles lernt er dabei: aber häufig vergißt ein Jüngling das Lernens- und Erkenntniswerteste darüber — sich selber; er bleibt zeitlebens ein Parteigänger. Ach, es ist viel Langeweile zu überwinden, viel Schweiß nötig, bis man seine Farben, seinen Pinsel, seine Leinwand gefunden hat! — Und dann ist man noch lange nicht Meister seiner Lebenskunst — aber wenigstens Herr in der eigenen Werkstatt.

267

Es gibt keine Erzieher. — Nur von Selbst-Erziehung solle man als Denker reden. Die Jugend-Erziehung durch andere ist entweder ein Experiment, an einem noch Unerkannten, Unerkennbaren vollzogen, oder eine grundsätzliche Nivellierung, um das neue Wesen, welches es auch sei, den Gewohnheiten und Sitten, welche herrschen, gemäß zu machen: in beiden Fällen also etwas, das des Denkers unwürdig ist, das Werk der Eltern und Lehrer, welche einer der verwegenen Ehrlichen nos ennemis naturels genannt hat. — Eines Tages, wenn man längst, nach der Meinung der Welt, erzogen ist, ent- deckt man sich selber: da beginnt die Aufgabe des Denkers; jetzt ist es Zeit, ihn zu Hilfe zu rufen — nicht als einen Erzieher, sondern als einen Selbst-Erzogenen, der Erfahrung hat.

268

Mitleiden mit der Jugend. — Es jammert uns, wenn wir hören, daß einem Jünglinge schon die Zähne ausbrechen, einem andern die Augen erblinden. Wüßten wir alles Unwiderrufliche und Hoffnungslose, das in seinem ganzen Wesen steckt, wie groß würde erst der Jammer sein! — Weshalb leiden wir hierbei eigentlich? Weil die Jugend fortführen soll, was wir unternommen haben, und jeder Ab- und Anbruch ihrer Kraft unserem Werke, das in ihre Hände fällt, zum Schaden gereichen will. Es ist der Jammer über die schlechte Garantie unserer Unsterblichkeit: oder wenn wir uns nur als Vollstrecker der Menschheits-Mission fühlen, der Jammer darüber, daß diese Mission in schwächere Hände, als die unsrigen sind, übergehen muß.

269

Die Lebensalter. — Die Vergleichung der vier Jahreszeiten mit den vier Lebensaltern ist eine ehrwürdige Albernheit. Weder die ersten 20, noch die letzten 20 Jahre des Lebens entsprechen einer Jahreszeit: vorausgesetzt, daß man sich bei der Vergleichung nicht mit dem Weiß des Haares und Schnees und mit ähnlichen Farbenspielen begnügt. Jene ersten zwanzig Jahre sind eine Vorbereitung auf das Leben überhaupt, auf das ganze Lebensjahr, als eine Art langen Neujahrstages; und die letzten zwanzig überschauen, verinnerlichen, bringen in Fug und Zusammenklang, was nur alles vorher erlebt wurde: so wie man es, in kleinem Maße, an jedem Silvestertage mit dem ganzen verflossenen Jahre tut. Zwischen inne liegt aber in der Tat ein Zeitraum, welcher die Vergleichung mit den Jahreszeiten nahelegt der Zeitraum vom zwanzigsten bis zum fünfzigsten Jahre (um hier einmal in Bausch und Bogen nach Jahrzehnten zu rechnen, während es sich von selber versteht, daß jeder nach seiner Erfahrung diese groben Ansätze für sich verfeinern muß). Jene dreimal zehn Jahre entsprechen dreien Jahreszeiten: dem Sommer, dem Frühling und dem Herbste, — einen Winter hat das menschliche Leben nicht, es sei denn, daß man die leider nicht selten eingeflochtenen harten, kalten, einsamen, hoffnungsarmen, unfruchtbaren Krankheitszeiten die Winterzeiten der Menschen nennen will. Die zwanziger Jahre: heiß, lästig, gewitterhaft, üppig treibend, müde machend, Jahre, in denen man den Tag am Abend, wenn er zu Ende ist, preist und sich dabei die Stirn abwischt: Jahre, in denen die Arbeit uns hart, aber notwendig dünkt, — diese zwanziger Jahre sind der Sommer des Lebens. Die dreißiger dagegen sind sein Frühling: die Luft bald zu warm, bald zu kalt, immer unruhig und anreizend: quellender Saft, Blätterfülle, Blütenduft überalclass="underline" viele bezaubernde Morgen und Nächte: die Arbeit, zu der der Vogelgesang uns weckt, eine rechte Herzens-Arbeit, eine Art Genuß der eigenen Rüstigkeit, verstärkt durch vorgenießende Hoffnungen. Endlich die vierziger Jahre: geheimnisvoll, wie alles Stillestehende; einer hohen weiten Berg-Ebene gleichend, an der ein frischer Wind hinläuft; mit einem klaren, wolkenlosen Himmel darüber, welcher den Tag über und in die Nächte hinein immer mit der gleichen Sanftmut blickt: die Zeit der Ernte und der herzlichsten Heiterkeit — es ist der Herbst des Lebens.

270

Der Geist der Frauen in der jetzigen Gesellschaft. — Wie die Frauen jetzt über den Geist der Männer denken, errät man daraus, daß sie bei ihrer Kunst des Schmückens an alles eher denken, als den Geist ihrer Züge oder die geistreichen Einzelheiten ihres Gesichts noch besonders zu unterstreichen: sie verbergen Derartiges vielmehr und wissen sich dagegen, zum Beispiel durch eine Anordnung des Haars über der Stirn, den Ausdruck einer lebendig begehrenden Sinnlichkeit und Ungeistigkeit zu geben, gerade wenn sie diese Eigenschaften nur wenig besitzen. Ihre Überzeugung, daß der Geist bei Weibern die Männer erschrecke, geht so weit, daß sie selbst die Schärfe des geistigsten Sinnes gern verleugnen und den Ruf der Kurzsichtigkeit absichtlich auf sich laden; dadurch glauben sie wohl die Männer zutraulicher zu machen: es ist, als ob sich eine einladende sanfte Dämmerung um sie verbreite.