Hundertjährige Quarantäne. — Die demokratischen Einrichtungen sind Quarantäne-Anstalten gegen die alte Pest tyrannenhafter Gelüste: als solche sehr nützlich und sehr langweilig.
Der gefährlichste Anhänger. — Der gefährlichste Anhänger ist der, dessen Abfall die ganze Partei vernichten würde: also der beste Anhänger.
Das Schicksal und der Magen. — Ein Butterbrot mehr oder weniger im Leibe des Jockeys entscheidet gelegentlich über Wettrennen und Wetten, also über Glück und Unglück von Tausenden. — Solange das Schicksal der Völker noch von den Diplomaten abhängt, werden die Mägen der Diplomaten immer der Gegenstand patriotischer Beklemmung sein. Quosque tandem —
Sieg der Demokratie. — Es versuchen jetzt alle politischen Mächte, die Angst vor dem Sozialismus auszubeuten, um sich zu stärken. Aber auf die Dauer hat doch allein die Demokratie den Vorteil davon: denn alle Parteien sind jetzt genötigt, dem» Volke «zu schmeicheln und ihm Erleichterungen und Freiheiten aller Art zu geben, wodurch es endlich omnipotent wird. Das Volk ist vom Sozialismus, als einer Lehre von der Veränderung des Eigentumerwerbes, am entferntesten: und wenn es erst einmal die Steuerschraube in den Händen hat, durch die großen Majoritäten seiner Parlamente, dann wird es mit der Progressivsteuer dem Kapitalisten-, Kaufmanns- und Börsenfürstentum an den Leib gehen und in der Tat langsam einen Mittelstand schaffen, der den Sozialismus wie eine überstandene Krankheit vergessen darf.- Das praktische Ergebnis dieser um sich greifenden Demokratisierung wird zunächst ein europäischer Völkerbund sein, in welchem jedes einzelne Volk, nach geographischen Zweckmäßigkeiten abgegrenzt, die Stellung eines Kantons und dessen Sonderrechte innehat: mit den historischen Erinnerungen der bisherigen Völker wird dabei wenig noch gerechnet werden, weil der pietätvolle Sinn für dieselben unter der neuerungssüchtigen und versuchslüsternen Herrschaft des demokratischen Prinzips allmählich von Grund aus entwurzelt wird. Die Korrekturen der Grenzen, welche dabei sich nötig zeigen, werden so ausgeführt, daß sie dem Nutzen der großen Kantone und zugleich dem des Gesamtverbandes dienen, nicht aber dem Gedächtnisse irgend welcher vergrauten Vergangenheit. Die Gesichtspunkte für diese Korrekturen zu finden wird die Aufgabe der zukünftigen Diplomaten sein, die zugleich Kulturforscher, Landwirte, Verkehrskenner sein müssen und keine Heere, sondern Gründe und Nützlichkeiten hinter sich haben. Dann erst ist die äußere Politik mit der inneren unzertrennbar verknüpft: während jetzt immer noch die letztere ihrer stolzen Gebieterin nachläuft und im erbärmlichen Körbchen die Stoppelähren sammelt, die bei der Ernte der ersteren übrig bleiben.
Ziel und Mittel der Demokratie. — Die Demokratie will möglichst vielen Unabhängigkeit schaffen und verbürgen, Unabhängigkeit der Meinungen, der Lebensart und des Erwerbs. Dazu hat sie nötig, sowohl den Besitzlosen als den eigentlich Reichen das politische Stimmrecht abzusprechen: als den zwei unerlaubten Menschenklassen, an deren Beseitigung sie stetig arbeiten muß, weil diese ihre Aufgabe immer wieder in Frage stellen. Ebenso muß sie alles verhindern, was auf die Organisation von Parteien abzuzielen scheint. Denn die drei großen Feinde der Unabhängigkeit in jenem dreifachen Sinne sind die Habenichtse, die Reichen und die Parteien. — Ich rede von der Demokratie als von etwas Kommendem. Das, was schon jetzt so heißt, unterscheidet sich von den älteren Regierungsformen allein dadurch, daß es mit neuen Pferden fährt: die Straßen sind noch die alten, und die Räder sind auch noch die alten. — Ist die Gefahr bei diesen Fuhrwerken des Völkerwohls wirklich geringer geworden?
Die Besonnenheit und der Erfolg. — Jene große Eigenschaft der Besonnenheit, welche im Grunde die Tugend der Tugenden, ihre Urgroßmutter und Königin ist, hat im gewöhnlichen Leben keineswegs immer den Erfolg auf ihrer Seite: und der Freier würde sich getäuscht finden, der nur des Erfolgs wegen sich um jene Tugend beworben hätte. Sie gilt nämlich unter den prak- tischen Leuten für verdächtig und wird mit der Hinterhaltigkeit und heuchlerischen Schlauheit verwechselt: wem dagegen ersichtlich die Besonnenheit abgeht, — der Mann, der rasch zugreift und auch einmal danebengreift, hat das Vorurteil für sich, ein biederer, zuverlässiger Geselle zu sein. Die praktischen Leute mögen also den Besonnenen nicht, er ist für sie, wie sie meinen, eine Gefahr. Andererseits nimmt man den Besonnenen leicht als ängstlich, befangen, pedantisch — die unpraktischen und genießenden Leute gerade finden ihn unbequem, weil er nicht leichthin lebt wie sie, ohne an das Handeln und die Pflichten zu denken: er erscheint unter ihnen wie ihr leibhaftes Gewissen, und der helle Tag wird bei seinem Anblick ihrem Auge bleich. Wenn ihm also der Erfolg und die Beliebtheit fehlen, so mag er sich immer zum Troste sagen:»so hoch sind eben die Steuern, welche du für den Besitz des köstlichsten Gutes unter Menschen zahlen mußt, — er ist es wert!»
Et in Arcadia ego. — Ich sah hinunter, über Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch Tannen und altersernste Fichten hindurch: Felsbrocken aller Art um mich, der Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Herde bewegte, streckte und dehnte sich vor mir; einzelne Kühe und Gruppen ferner, im schärfsten Abendlichte, neben dem Nadelgehölz; andere näher, dunkler; alles in Ruhe und Abendsättigung. Die Uhr zeigte gegen halb sechs. Der Stier der Herde war in den weißen, schäumenden Bach getreten und ging langsam widerstrebend und nachgebend seinem stürzenden Laufe nach: so hatte er wohl seine Art von grimmigem Behagen. Zwei dunkelbraune Geschöpfe, bergamasker Herkunft, waren die Hirten: das Mädchen fast als Knabe gekleidet. Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend — alles groß, still und hell. Die gesamte Schönheit wirkte zum Schaudern und zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung; unwillkürlich, wie als ob es nichts Natürlicheres gäbe, stellte man sich in diese reine scharfe Lichtwelt (die gar nichts Sehnendes, Erwartendes, Vor- und Zurückblickendes hatte) griechische Heroen hinein; man mußte wie Poussin und sein Schüler empfinden: heroisch zugleich und idyllisch. — Und so haben einzelne Menschen auch gelebt, so sich dauernd in der Welt und die Welt in sich gefühlt, und unter ihnen einer der größten Menschen, der Erfinder einer heroisch-idyllischen Art zu philosophieren: Epikur.
Rechnen und messen. — Viele Dinge sehen, miteinander erwägen, gegeneinander abrechnen und aus ihnen einen schnellen Schluß, eine ziemlich sichere Summe bilden, — das macht den großen Politiker, Feldherrn, Kaufmann: also die Geschwindigkeit in einer Art von Kopfrechnen. Eine Sache sehen, in ihr das einzige Motiv zum Handeln, die Richterin alles übrigen Handelns finden, macht den Helden, auch den Fanatiker — also eine Fertigkeit im Messen mit einem Maßstabe.
Nicht unzeitig sehen wollen. — Solange man etwas erlebt, muß man dem Erlebnis sich hingeben und die Augen schließen, also nicht darin schon den Beobachter machen. Das nämlich würde die gute Verdauung des Erlebnisses stören: anstatt einer Weisheit trüge man eine Indigestion davon.
Aus der Praxis des Weisen. — Um weise zu werden, muß man gewisse Erlebnisse erleben wollen, also ihnen in den Rachen laufen. Sehr gefährlich ist dies freilich; mancher» Weise «wurde dabei aufgefressen.
Die Ermüdung des Geistes. — Unsere gelegentliche Gleichgültigkeit und Kälte gegen Menschen, welche uns als Härte und Charaktermangel ausgelegt wird, ist häufig nur eine Ermüdung des Geistes: bei dieser sind uns die Anderen, wie wir uns selber, gleichgültig oder lästig.
«Eins ist not.«— Wenn man klug ist, ist einem allein darum zu tun, daß man Freude im Herzen habe. — Ach, setzte jemand hinzu, wenn man klug ist, tut man am besten, weise zu sein.
Ein Zeugnis der Liebe. — Jemand sagte:»Über zwei Personen habe ich nie gründlich nachgedacht: es ist das Zeugnis meiner Liebe zu ihnen.»
Wie man schlechte Argumente zu verbessern sucht — Mancher wirft seinen schlechten Argumenten noch ein Stück seiner Persönlichkeit hintennach, wie als ob jene dadurch richtiger ihre Bahn laufen würden und sich in gerade und gute Argumente verwandeln ließen; ganz wie die Kegelschieber auch nach dem Wurfe noch mit Gebärden und Schwenkungen der Kugel die Richtung zu geben suchen.
Die Rechtlichkeit. — Es ist noch wenig, wenn man in bezug auf Rechte und Eigentum ein Muster- Mensch ist; wenn man zum Beispiel als Knabe nie Obst in fremden Gärten nimmt, als Mann nicht über ungemähte Wiesen läuft, — um kleine Dinge zu nennen, welche wie bekannt, den Beweis für diese Art von Musterhaftigkeit besser geben als große. Es ist noch wenig: man ist dann immer erst eine» juristische Person«, mit jenem Grad von Moralität, deren sogar eine» Gesellschaft«, ein Menschen-Klumpen fähig ist.
Mensch! — Was ist die Eitelkeit des eitelsten Menschen gegen die Eitelkeit, welche der Bescheidenste besitzt, in Hinsicht darauf, daß er sich in der Natur und Welt als» Mensch «fühlt.
Nötigste Gymnastik. — Durch den Mangel an kleiner Selbstbeherrschung bröckelt die Fähigkeit zur großen ab. Jeder Tag ist schlecht benutzt und eine Gefahr für den nächsten, an dem man nicht wenigstens einmal sich etwas im kleinen versagt hat: diese Gymnastik ist unentbehrlich, wenn man sich die Freude, sein eigener Herr zu sein, erhalten will.
Sich selber verlieren. — Wenn man erst sich selber gefunden hat, muß man verstehen, sich von Zeit zu Zeit zu verlieren — und dann wieder zu finden: vorausgesetzt daß man ein Denker ist. Diesem ist es nämlich nachteilig, immerdar an eine Person gebunden zu sein.
Wann Abschied nehmen not tut. — Von dem, was du erkennen und messen willst, mußt du Abschied nehmen, wenigstens auf eine Zeit. Erst wenn du die Stadt verlassen hast, siehst du, wie hoch sich ihre Türme über die Häuser erheben.
Am Mittag. — Wem ein tätiger und stürmereicher Morgen des Lebens beschieden war, dessen Seele überfällt um den Mittag des Lebens eine seltsame Ruhesucht, die monden- und jahrelang dauern kann. Es wird still um ihn, die Stimmen klingen fern und ferner; die Sonne scheint steil auf ihn herab. Auf einer verborgenen Waldwiese sieht er den großen Pan schlafend; alle Dinge der Natur sind mit ihm eingeschlafen, einen Ausdruck von Ewigkeit im Gesichte — so dünkt es ihm. Er will nichts, er sorgt sich um nichts, sein Herz steht still, nur sein Auge lebt, — es ist ein Tod mit wachen Augen. Vieles sieht da der Mensch, was er nie sah, und soweit er sieht, ist alles in ein Lichtnetz eingesponnen und gleichsam darin begraben. Er fühlt sich glücklich dabei, aber es ist ein schweres, schweres Glück. — Da endlich erhebt sich der Wind in den Bäumen, Mittag ist vorbei, das Leben reißt ihn wieder an sich, das Leben mit blinden Augen, hinter dem sein Gefolge herstürmt: Wunsch, Trug, Vergessen, Genießen, Vernichten, Vergänglichkeit. Und so kommt der Abend herauf, stürmereicher und tatenvoller, als selbst der Morgen war. — Den eigentlich tätigen Menschen erscheinen die länger währenden Zustände des Erkennens fast unheimlich und krankhaft, aber nicht unangenehm.