Sich vor seinem Maler hüten. — Ein großer Maler, der in einem Porträt den vollsten Ausdruck und Augenblick, dessen ein Mensch fähig ist, enthüllt und niedergelegt hat, wird von diesem Menschen, wenn er ihn später im wirklichen Leben wiedersieht, fast immer nur eine Karikatur zu sehen glauben.
Die zwei Grundsätze des neuen Lebens. — Erster Grundsatz: man soll das Leben auf das Sicherste, Beweisbarste hin einrichten: nicht wie bisher auf das Entfernteste, Unbestimmteste, Horizont-Wolken- hafteste hin. Zweiter Grundsatz: man soll sich die Reihenfolge des Nächsten und Nahen, des Sicheren und weniger Sicheren feststellen, bevor man sein Leben einrichtet und in eine endgültige Richtung bringt.
Gefährliche Reizbarkeit. — Begabte Menschen, die aber träge sind, werden immer etwas gereizt erscheinen, wenn einer ihrer Freunde mit einer tüchtigen Arbeit fertig geworden ist. Ihre Eifersucht ist rege, sie schämen sich ihrer Faulheit — oder vielmehr, sie befürchten, der Tätige verachte sie gegenwärtig noch mehr als sonst. In dieser Stimmung kritisieren sie das neue Werk — und ihre Kritik wird zur Rache, zum höchsten Befremden des Urhebers.
Zerstören der Illusionen. — Die Illusionen sind gewiß kostspielige Vergnügungen: aber das Zerstören der Illusionen ist noch kostspieliger — als Vergnügen betrachtet, was es unleugbar für manchen Menschen ist.
Das Eintönige des Weisen. — Die Kühe haben mitunter den Ausdruck der Verwunderung, die auf dem Wege zur Frage stehen bleibt. Dagegen liegt im Auge der höheren Intelligenz das nil admirari ausgebreitet wie die Eintönigkeit des wolkenlosen Himmels.
Nicht zu lange krank sein. — Man hüte sich, zu lange krank zu sein: denn bald werden die Zuschauer durch die übliche Verpflichtung, Mitleiden zu bezeigen, ungeduldig, weil es ihnen zuviel Mühe macht, diesen Zustand lange bei sich aufrecht zu erhalten — und dann gehen sie unmittelbar zur Verdächtigung eures Charakters über, mit dem Schlusse:»ihr verdient es krank zu sein, und wir brauchen uns nicht mehr mit Mitleiden anzustrengen.»
Wink für Enthusiasten. — Wer gern hinge- rissen werden will und sich leicht nach oben tragen lassen möchte, soll zusehen, daß er nicht zu schwer werde: das heißt zum Beispiel, daß er nicht viel lerne und namentlich von der Wissenschaft sich nicht erfüllen lasse. Diese macht schwerfällig! — nehmt euch in Acht, ihr Enthusiasten!
Sich zu überraschen wissen. — Wer sich selber sehen will, so wie er ist, muß es verstehen, sich selber zu überraschen, mit der Fackel in der Hand. Denn es steht mit dem Geistigen so, wie es mit dem Körperlichen steht: wer gewohnt ist, sich im Spiegel zu schauen, vergißt immer seine Häßlichkeit: erst durch den Maler bekommt er den Eindruck derselben wieder. Aber er gewöhnt sich auch an das Gemälde und vergißt seine Häßlichkeit zum zweiten Male. — Dies nach dem allgemeinen Gesetze, daß der Mensch das Unveränderlich-Häßliche nicht erträgt: es sei denn auf einen Augenblick; er vergißt es oder leugnet es in allen Fällen. — Die Moralisten müssen auf jenen» Augenblick «rechnen, um ihre Wahrheiten vorbringen zu dürfen.
Meinungen und Fische. — Man ist Besitzer seiner Meinungen, wie man Besitzer von Fischen ist, — insofern man nämlich Besitzer eines Fischteiches ist. Man muß fischen gehen und Glück haben, — dann hat man seine Fische, seine Meinungen. Ich rede hier von lebendigen Meinungen, von lebendigen Fischen. Andere sind zufrieden, wenn sie ein Fossilien-Kabinett besitzen — und, in ihrem Kopfe,»Überzeugungen«.
Anzeichen von Freiheit und Unfreiheit. — Seine notwendigen Bedürfnisse soviel wie möglich selber befriedigen, wenn auch unvollkommen, das ist die Richtung auf Freiheit von Geist und Person. Viele, auch überflüssige Bedürfnisse sich befriedigen lassen, und so vollkommen als möglich, — erzieht zur Unfreiheit. Der Sophist Hippias, der alles was er trug, innen und außen, selbst erworben, selber gemacht hatte, entspricht eben damit der Richtung auf höchste Freiheit des Geistes und der Person. Nicht darauf kommt es an, daß alles gleich gut und vollkommen gearbeitet ist; der Stolz flickt schon die schadhaften Stellen aus.
Sich selber glauben. — In unserer Zeit mißtraut man jedem, der an sich selber glaubt; ehemals genügte es, um an sich glauben zu machen. Das Rezept, um jetzt Glauben zu finden, heißt:»Schone dich selber nicht! Willst du deine Meinung in ein glaubwürdiges Licht setzen, so zünde zuerst die eigene Hütte an!»
Reicher und ärmer zugleich. — Ich kenne einen Menschen, der als Kind schon sich gewöhnt hatte, gut von der Intellektualität der Menschen zu denken, also von ihrer wahren Hingebung in bezug auf geistige Dinge, ihrer uneigennützigen Bevorzugung des als wahr Erkannten und dergleichen, dagegen von seinem eigenen Kopfe (Urteil, Gedächtnis, Geistesgegenwart, Phantasie) bescheidene, ja niedrige Begriffe zu haben. Er machte sich nichts aus sich, wenn er sich mit anderen verglich. Nun wurde er im Laufe der Jahre erst einmal und dann hundertfach gezwungen, in diesem Punkte umzulernen, — man sollte denken zu seiner großen Freude und Genugtuung. Es gab auch in der Tat etwas davon; aber» doch ist, wie er einmal sagte, eine Bitterkeit der bittersten Art beigemischt, welche ich im früheren Leben nicht kannte: denn seit ich die Menschen und mich selber gerechter schätze, scheint mir mein Geist weniger nütze; ich glaube damit kaum noch etwas Gutes erweisen zu können, weil der Geist der Anderen es nicht anzunehmen versteht: ich sehe jetzt die schreckliche Kluft zwischen dem Hilfreichen und dem Hilfebedürftigen immer vor mir. Und so quält mich die Not, meinen Geist für mich haben und allein genießen zu müssen, soweit er genießbar ist. Aber geben ist seliger als haben: und was ist der Reichste in der Einsamkeit einer Wüste!»
Wie man angreifen soll. — Die Gründe, um derentwillen man an etwas glaubt oder nicht glaubt, sind bei den allerseltensten Menschen überhaupt so stark, als sie sein können. Für gewöhnlich hat man, um den Glauben an etwas zu erschüttern, durchaus nicht nötig, ohne weiteres das schwerste Geschütz des Angriffs vorzufahren; bei vielen führt es schon zum Ziele, wenn man den Angriff mit etwas Lärm macht: so daß oft Knallerbsen genügen. Gegen sehr eitle Personen reicht die Miene des allerschwersten Angriffs aus: sie sehen sich sehr ernst genommen — und geben gern nach.
Tod. — Durch die sichere Aussicht auf den Tod könnte jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtsinn beigemischt sein — und nun habt ihr wunderlichen Apotheker-Seelen aus ihm einen übelschmeckenden Gift-Tropfen gemacht, durch den das ganze Leben widerlich wird!
Reue. — Niemals der Reue Raum geben, sondern sich sofort sagen: dies hieße ja der ersten Dummheit eine zweite zugesellen. — Hat man Schaden gestiftet, so sinne man darauf, Gutes zu stiften. Wird man wegen seiner Handlungen gestraft, dann ertrage man die Strafe mit der Empfindung, damit schon etwas Gutes zu stiften, man schreckt die anderen ab, in die gleiche Torheit zu verfallen. Jeder gestrafte Übeltäter darf sich als Wohltäter der Menschheit fühlen.
Zum Denker werden. — Wie kann jemand zum Denker werden, wenn er nicht mindestens den dritten Teil jeden Tages ohne Leidenschaften, Menschen und Bücher verbringt?
Das beste Heilmittel. — Etwas Gesundheit ab und zu ist das beste Heilmittel des Kranken.
Nicht anrühren! — Es gibt schreckliche Menschen, welche ein Problem, anstatt es zu lösen, für alle, welche sich mit ihm abgeben wollen, verfitzen und schwerer lösbar machen. Wer es nicht versteht, den Nagel auf den Kopf zu treffen, soll ja gebeten sein, ihn gar nicht zu treffen.
Die vergessene Natur. — Wir sprechen von Natur und vergessen uns dabei: wir selber sind Natur, quand memê — . Folglich ist Natur etwas ganz anderes als das, was wir beim Nennen ihres Namens empfinden.
Tiefe und Langweiligkeit. — Bei tiefen Menschen wie bei tiefen Brunnen dauert es lange, bis etwas, das in sie fällt, ihren Grund erreicht. Die Zuschauer, welche gewöhnlich nicht lange genug warten, halten solche Menschen leicht für unbeweglich und hart — oder auch für langweilig.
Wann es Zeit ist, sich Treue zu geloben. — Man verläuft sich mitunter in eine geistige Richtung, welcher unsere Begabung widerspricht; eine Zeitlang kämpft man heroisch wider die Flut und den Wind an, im Grunde gegen sich selbst: man wird müde, keucht; was man vollbringt, macht einem keine rechte Freude, man meint zu viel bei diesen Erfolgen eingebüßt zu haben. Ja, man verzweifelt an seiner Fruchtbarkeit, an seiner Zukunft, mitten im Siege vielleicht. Endlich, endlich kehrt man um — und jetzt weht der Wind in unser Segel und treibt uns in unser Fahrwasser. Welches Glück! Wie siegesgewiß fühlen wir uns! Jetzt erst wissen wir, was wir sind und was wir wollen, jetzt geloben wir uns Treue und dürfen es — als Wissende.
Wetterpropheten. — Wie die Wolken uns verraten, wohin hoch über uns die Winde laufen, so sind die leichtesten und freiesten Geister in ihren Richtungen vorausverkündend für das Wetter, das kommen wird. Der Wind im Tale und die Meinungen des Marktes von heute bedeuten nichts für das, was kommt, sondern nur für das, was war.
Stetige Beschleunigung. — Jene Personen, welche langsam beginnen und schwer in einer Sache heimisch werden, haben nachher mitunter die Eigenschaft der stetigen Beschleunigung, — so daß zuletzt niemand weiß, wohin der Strom sie noch reißen kann.